Rudolf Treichler

Dr. med. Treichler, Rudolf junior

Psychiater, Dichter.

*10.03.1909, Schondorf am Ammersee (Deutschland)

✟22.07.1994, Wiesneck (Deutschland)

Rudolf Treichler prägte die Entwicklung der anthroposophischen Psychiatrie. Er war ein Mensch des Wortes, des Gehörten als Psychiater, des Gesprochenen als Vortragender, des Gelesenen als interessierter und gebildeter Zeitgenosse und des Geschriebenen als Fachbuchautor und Dichter. Am Schicksal Hölderlins entzündete sich sein Lebensinteresse: seelische Krankheit im Lebenslauf und dichterisches Schaffen.

Rudolf Treichler ist am 10. März 1909 in Schondorf am Ammersee geboren. Der Vater (Rudolf Treichler sen.) war Wiener, studierter Philologe, war zuerst Privatlehrer und Schauspieler, später, ab 1919, Waldorflehrer. Die Mutter stammte aus Bern und war Klavierlehrerin. Er fand den Weg zur Medizin über die Literatur und wurde für die Psychiatrie ein Lehrer für eine ganze Generation anthroposophischer Ärzte und Heileurythmistinnen. Sein jüngerer Bruder wurde Schauspieler.

Bis zum 12. Lebensjahr wuchs Rudolf Treichler im Münchner Künstlerviertel Schwabing auf. Im Frühjahr 1920 zog die Familie nach Stuttgart. Rudolf Treichler kam in die 5. Klasse zu Caroline von Heydebrand. Als 13-Jähriger erlebte er einen Vortrag Rudolf Steiners im Goetheanum und sah die Arielszene aus Goethes „Faust‟. Als 16-Jähriger stand er erschüttert am Totenbett Rudolf Steiners.

Bereits als Kind hatte Rudolf Treichler in München Kindereurythmie, als die Eurythmie noch im Entstehen war. Während der Schulzeit in Stuttgart vertiefte sich sein Interesse an dieser neuen Bewegungskunst so, dass eine lebenslange Beziehung und Beschäftigung daraus entstand. Ein wesentliches Thema in Treichlers Beitrag für eine Erweiterung der Psychiatrie durch Anthroposophie war die Ausarbeitung der Heileurythmie für psychiatrische Erkrankungen. Dabei wirkte auch seine zweite Frau, Carla, mit, die Heileurythmistin in der Friedrich Husemann-Klinik war. Durch die Eurythmie vertiefte sich auch sein Verhältnis zur Sprache. In der Erfahrung an der Schule wurzelte auch sein Verhältnis zur Bothmer-Gymnastik, die er später zu therapeutischen Zwecken in der Friedrich Husemann-Klinik einführte.

Ursprünglich wollte er, als begeisterter Waldorfschüler, selbst Waldorflehrer für Literatur und Kunstgeschichte werden. Im Deutschunterricht bei Herbert Hahn, der ihn sehr begeisterte, wählte er als Thema der Jahresarbeit in der 12. Klasse: Leben und Werk Friedrich Hölderlins. Die seelische Erkrankung Hölderlins, an der dieser die Hälfte seines 73-jährigen Lebens gelitten und trotzdem gedichtet hatte, beeindruckte ihn so sehr, dass er für sich feststellte: „Um diesen Dichter zu verstehen, muss ich mich mit seiner Krankheit befassen.‟

Am Ende seines Medizinstudiums, das er in München, Wien und Tübingen absolvierte, verfasste Treichler eine psychiatrisch-literarische Doktorarbeit über „Die Erkrankung Friedrich Hölderlins in ihren Beziehungen zu seinem dichterischen Schaffen‟, die 1936 veröffentlicht wurde. 51 Jahre später legte er mit seinem Buch „Friedrich Hölderlin, Leben und Dichtung - Krankheit und Schicksal‟ den Abschluss seiner lebenslangen Beschäftigung über die Zusammenhänge von Krankheit, Schicksal und dichterischem Arbeiten vor, nicht ohne den Gedanken von Reinkarnation und Karma in Hölderlins Dichtung und Schicksal aufzuzeigen.

Bei dem Entschluss des Zwölftklässlers, Psychiater werden zu wollen, wirkte auch eine Erinnerung an Friedrich Husemann mit, der 1920 einmal von seinen Eltern gerufen wurde, als eine Besucherin seines Vaters akut psychisch erkrankte. Der elfjährige Knabe erlebte, wie Husemann, der erste anthroposophische Psychiater, der Patientin mit Worten helfen konnte. Eine zweite Begegnung mit Friedrich Husemann, einige Jahre später in den Räumen der Stuttgarter Weleda, hatte ebenfalls eine wichtige Bedeutung für Rudolf Treichlers ärztlich-psychiatrische Haltung: Er sah, wie Husemann zusammen mit anderen Kollegen an der Entwicklung von anthroposophischen Arzneimitteln arbeitete. Dies verdichtete sich bei ihm zu der Erkenntnis, dass nicht nur mit Worten, sondern auch mit Substanzen Heilen möglich ist.

Damit sind in Rudolf Treichlers Leben schon in der Schulzeit seine wesentlichen therapeutischen Werkzeuge als anthroposophischer Psychiater angeklungen: das Wort, die Substanz, die Heileurythmie und in der Folge auch die anderen Künste und die Bothmer-Gymnastik. Zu diesen Bereichen hat Treichler in seinem beruflichen Wirken wichtige Erfahrungen gemacht, Impulse gegeben und publiziert.

Seine psychiatrisch-neurologische Facharztausbildung machte er am Bürgerspital in Stuttgart, wo er insgesamt acht Jahre tätig war (1937-45), davon fünf Jahre kriegsdienstverpflichtet. Zu Anfang des Krieges heiratete er die junge, aus Südamerika stammende Malerin Alida. In den Kriegsjahren bekamen sie drei Kinder.

Während seiner Zeit am Bürgerspital in Stuttgart beschäftigte sich Treichler besonders mit dem Thema der Stoffwechselstörungen bei Psychosen, worauf er später, bei den Ausarbeitungen seiner anthroposophisch orientierten Psychiatrie, rekurrieren konnte. Nach Kriegsende, im Herbst 1945, ließ er sich mit eigener Nervenarztpraxis in Stuttgart nieder, um endlich auch so therapieren zu können, wie es ihm aufgrund seiner erarbeiteten anthroposophischen Anschauung angemessen erschien. Er nahm an der von Herbert Sieweke angeregten Ärztearbeit in der Wohnung von Gisbert Husemann teil. Zu Ostern 1946, bei der ersten anthroposophischen Ärztetagung in Deutschland nach dem Krieg, hielt Treichler einen Vortrag; er war Mitbegründer der „Arbeitsgemeinschaft anthroposophischer Ärzte in Deutschland‟ und wurde 1953 bei der offiziellen Gründung zusammen mit Eberhard Schickler und Käthe Neugart in den Vorstand gewählt. 18 Jahre lang, bis 1971, arbeitete er im Vorstand mit.

Als Friedrich Husemann 1959 starb, folgte Rudolf Treichler 50-jährig dem Ruf, zusammen mit Werner Priever die ärztliche Leitung des damaligen „Sanatorium Wiesneck‟ zu übernehmen. Nach 14 Jahren als niedergelassener Nervenarzt in Stuttgart begann nun ein neues Lebenskapitel, das 14½ Jahre leitende Kliniktätigkeit beinhaltete, mit neuen Aufgaben und Erfahrungen nicht nur im ärztlich-therapeutischen Bereich, sondern auch in der täglichen Zusammenarbeit mit anderen Berufen und in Gremien und Konferenzen der Klinik. Als einer der ersten Beschlüsse wurde das Sanatorium in „Friedrich Husemann-Klinik‟ umbenannt. Die Arbeit wurde zunehmend klinischer und in einer Reihe von Neubauten und der Erhöhung der Bettenzahl von 65 auf 100 trat die Entwicklung der Klinik deutlich nach außen in Erscheinung.

Neben der Ausarbeitung einer „psychiatrischen Heileurythmie‟ im Zusammenhang mit der Erkenntnis der erkrankten Organsysteme bei den großen psychiatrischen Krankheitsbildern und einer menschenkundlichen Begründung und Indikationsstellung der anthroposophischen Kunsttherapien in der Psychiatrie widmete sich Treichler besonders der Therapie mit Metallen und entwickelte in Zusammenarbeit mit Otto Wolff neue Heilmittel für die Psychiatrie wie zum Beispiel Hepar-Magnesium, Hepar-Stannum, Cuprum-Ren, Ferrum/Acidum cholalikum und vor allem Antimon (Stibium) in verschiedenen Formen. Außerdem war ihm die Entwicklung der von Rudolf Steiner angeregten Heilmittelkomposition der vegetabilisierten Metalle ein großes Anliegen.

Der Wechsel von Stuttgart nach Wiesneck führte auch zu einer Veränderung und Neugestaltung seines privaten Lebens: Trennung von seiner ersten Frau, der Malerin, und zweite Ehe mit der Heileurythmistin Carla Weitz.

In vielen Vorträgen und Kursen, die ihn auch ins Ausland führten, vertrat Rudolf Treichler seine Erkenntnisse über die anthroposophische Sichtweise psychiatrischer Krankheiten und ihrer Behandlung. Manche Kurse der Aus- und Weiterbildung hat er bis ins hohe Alter regelmäßig gehalten. Auch in Aufsätzen und Büchern hat er viel für die Verbreitung und Anerkennung der anthroposophischen Psychiatrie gewirkt; bereits 1956 in der ersten Auflage des von Friedrich Husemann herausgegebenen Werkes „Das Bild des Menschen als Grundlage der Heilkunst‟ schrieb er das Kapitel „Seelische Krankheitsprozesse als Störungen der Seelenentwicklung‟, das in späteren Auflagen des Buches zu dem Kapitel „Grundzüge einer geisteswissenschaftlich orientierten Psychiatrie‟ erweitert wurde.

20 Jahre lang leitete er die von ihm begründeten „Psychiatrischen Hochschulwochen‟ am Goetheanum. Fachkollegen, insbesondere Paul von der Heide, unterstützten ihn bei der Durchführung. Die Themen waren einerseits die organischen Grundlagen psychiatrischer Krankheitsbilder und ihre Therapie, andererseits die Gesetzmäßigkeiten des Lebenslaufs im Sinne einer anthroposophischen Entwicklungspsychologie und ein darauf aufbauendes biografisches Verständnis der Krankheitsbilder. Der wesentliche Unterschied zur gängigen psychiatrischen Life-Event-Forschung liegt in dem Begriff von lebenslanger seelisch-geistiger Entwicklung. Nicht die Lebensereignisse machen den Menschen krank, sondern die Seele antwortet auf eine Störung ihrer Entwicklung (durch ein Ereignis ausgelöst) mit einem bestimmten Erscheinungsbild, das ihrer Entwicklung und ihren Möglichkeiten entspricht. Eine Frucht dieser Arbeit für die Psychiatrischen Hochschulwochen war das Buch „Die Entwicklung der Seele im Lebenslauf‟, das große Bekanntheit erreicht hat.

Im März 1974, 65-jährig, zog sich Treichler aus der leitenden Verantwortung der Klinik zurück, blieb ihr aber als Vortragender und Beratender verbunden und führte auch weiter Sprechstunden für Patienten. Auch die anthroposophische Arbeit im Wiesnecker Zweig gestaltete er über viele Jahre engagiert mit. In den 20 Jahren des Ruhestands arbeitete er täglich vormittags an seinem Schreibtisch: Vorbereitung für Vorträge und Kurse, Umarbeitungen früherer Veröffentlichungen und Neugestaltungen seiner Lebensthemen: die leiblichen Grundlagen der seelischen Erkrankungen; die Stufen der seelischen Entwicklungen im Lebenslauf; Hölderlin.

Um die eigenen Seelenkräfte zu regenerieren, spielte Rudolf Treichler bis zuletzt regelmäßig Klavier - und er dichtete. Er lebte seit der Schülerzeit in einem intensiven Ringen und Suchen um eine wahrheitsgemäße dichterische Sprache. Der erste Empfänger, dem der Schüler seine Gedichte verehrte, war Rudolf Steiner. Vier Gedichtbändchen sind von ihm erschienen (1946, 1975, 1982, 1992) und zuletzt ein Roman: „Die 30 Silberlinge des Judas Is Chariot‟.

Wenige Wochen vor seinem Tod schrieb er:

„Schutzengel in meiner Nacht,/Fern geahnter,/Was ist zwischen uns,/Das dich von mir fern hält?//Ist es im wallenden Silber/Deines Gewandes/Mein Spiegelbild,/Hässlich verrückt von innen?//Ist es das lichte Gebilde,/Das wächst in deinem Schoß,/Darin meine Züge/Zur Einheit streben?//Schutzengel, Schutzengel -/Da hast du mich angenommen/Und trägst mich aus meiner Nacht/Der Schönheit des Künftigen entgegen.‟

Markus Treichler

Quellen Erwähnungen

she. bei Rudolf Treichler senior
N 1979 Nr. 10 F.Lorenz:Zum 70. Geburtstag
N 1999 S. 70 90. Geburtstag
MaD 1948 Nr. 4, S. 20
MaD 1950 Nr. 14, S. 38
MaD 1970 Nr. 91, S. 75
G 1994 Nr. 31/32, 33/34 Todesanzeigen
DD 1989 Nr. 3 Zum 80. Geburtstag
Werke: Gedichte, Karlsruhe 1946; Vom Wesen der Nervenkrankheiten, Stuttgart 1956; Vom Wesen der Epilepsie, Stuttgart 1962, ³1991; Vom Wesen der Hysterie, Stuttgart 1964; Der schizophrene Prozeß, Stuttgart 1967, ²1981; Überall wartet das Wort (L), Fellbach ²1975; Grundzüge einer geisteswissenschaftlich orientierten Psychiatrie, in: Husemann, F. u. a. [Hrsg.]: Das Bild des Menschen, Bd. III, Stuttgart 1978; Die Entwicklung der Seele im Lebenslauf, Stuttgart 1981, 51987; Rose der Jahre (L), Basel 1982; Erweiterung der Psychiatrie durch Anthroposophie, Dornach 1984, Neuauflage: Was ist anthroposophische Psychiatrie, Dornach ²1996; Metamorphosen im Lebenslauf. Goethes Leben, Dornach 1984; Schlafen und Wachen, Stuttgart 1985; Weihnachtserlebnisse im Gedicht, Buchenbach 1986; Friedrich Hölderlin. Leben und Dichtung. Krankheit, Stuttgart 1987; Seelische Entwicklung und Sucht, Stuttgart 1988; Stunde des Lichts (L), Stuttgart 1992; Die dreißig Silberlinge des Judas Is Charioth, Berlin 1995; Engel am Abgrund, Berlin 1996; Beiträge in Sammelwerken; Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische, Spanische, Portugiesische, Niederländische, Finnische, Russische und Bulgarische erschienen; zahlreiche Beiträge in ÄR, BeH, G, weitere in DD, EK, G, MaD, N, PD, Pfa, SbK, T, ThD, WKÄ, WJ, WNA.
Literatur: Hagemann, E.: Bibliographie der Arbeiten der Schüler Dr. Steiners, o. O. 1970; Wolman, M.: Rudolf Treichler zum 80. Geburtstag, u. a. in: Mst 1989, Nr. 2; autobiografisch: Aus meinem Leben, in: Mst 1989, Nr. 4; Rißmann, W.: Dr. med. Rudolf Treichler, in: WB 1989, Nr. 3; Beck, D.: Dr. med. Rudolf Treichler, in: WB 1994, Nr. 9; ders.: Rudolf Treichler, in: RMG 1994, Nr. 8, auch in: Selg, P. [Hrsg.]: Anthroposophische Ärzte, Dornach 2000; ders.: Rudolf Treichler verstorben, in: G 1994/95, Nr. 33/34; Rißmann, W.: Rudolf Treichler, in: N 1994/95, Nr. 66; Glöckler, M.: Im Gedenken an den 90. Geburtstag, in: N 1999, Nr. 11.
Abkürzungen: siehe hier
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