Edmund Pracht

Pracht, Edmund

Musiker.

*21.10.1898, Berlin (Deutschland)

✟22.03.1974, Arlesheim (Schweiz)

Mit seiner weit gespannten Kurs- und Vortragstätigkeit, seinen Kompositionen, vor allem aber durch die Konzeption der 1926 erstmalig gebauten Leier, gab Pracht wesentliche Impulse für die Ausgestaltung der musikalischen Arbeit innerhalb der anthroposophischen Heilpädagogik und darüber hinaus.

Prachts Vater war Wolgadeutscher, der in Berlin einen Kaviarimport betrieb, die Mutter stammte aus Posen. Als Kind lernte Pracht Klavier und Trompete spielen. Im Kriegsjahr 1916 legte er am Steglitzer Gymnasium die Not-Reifeprüfung ab und immatrikulierte sich an der Berliner Universität im juristischen Fach. Im März 1917 erfolgte die Einberufung zum Kriegsdienst als Fliegerbeobachter. 1919 setzte Pracht seine Studien fort, zunächst an der Handels-Hochschule in Berlin, dann, nach einem praktischen Arbeitsjahr in Bremen, wieder an der Berliner Universität, wo er wirtschafts- und sozialwissenschaftliche sowie philosophische Vorlesungen besuchte. Im Frühjahr 1923 brach er das Studium ab und wurde Mitglied in der von Guenther Wachsmuth zusammengerufenen Wächtergruppe an der Brandruine des ersten Goetheanum.

Schon in den Berliner Jahren war Pracht auf die Anthroposophie gestoßen und Steiner mehrmals begegnet, u. a. 1922 beim „Pädagogischen Jugendkurs‟ (GA 217). 1921 hatte er sich mit den ihm wichtigen Fragen zur Zukunft der Musik an Steiner gewandt. Nun fand der vielseitig Begabte in der spirituell und künstlerisch anregenden Dornacher Atmosphäre reiche Nahrung. Als versierter Pianist begleitete er viel zur Eurythmie, betätigte sich schauspielerisch, betrieb malerische (bei Henni Geck) und plastische Studien und hörte zahlreiche Vorträge Steiners. Besonders der Ton-Eurythmiekurs (GA 278) wurde ihm für das eigene Suchen in der Musik wegweisend. Das hier angeregte vertiefende Erüben der musikalischen Elemente schuf in ihm den Nährboden, der zwei Jahre später die Schaffung der Leier ermöglichte. Nach seiner eigenen Schilderung trat dieses Instrument, ohne Anlehnung an historische Vorbilder, vor seinen inneren Blick, indem sich ihm die Bestandteile des Klaviers auflösten, bis nur noch Saiten und Resonanzkörper übrig blieben. Um die monatelang gehegte Idee Wirklichkeit werden zu lassen, bedurfte es allerdings einer Geburtshilfe: 1926 wurde Pracht gebeten, für den Eurythmieunterricht der Kinder am „Sonnenhof‟ (der heilpädagogischen Dépendance von Ita Wegmans Klinik) zu spielen. Von den Möglichkeiten des Klaviers unbefriedigt und bestärkt durch Ita Wegman, gab Pracht nun den Bau einer Leier nach seinen Vorstellungen bei einem Basler Geigenbauer in Auftrag. Walter Lothar Gärtner, ebenfalls Mitglied der Wächtergruppe, griff Prachts Idee auf, gab ihr eine neue Form und baute in kürzester Zeit das erste Instrument. Pracht und Gärtner gründeten eine Arbeitsgemeinschaft, Gärtner machte den Leierbau zu seiner Lebensaufgabe. Fortan spielte das neue Instrument im Musikleben der heilpädagogischen Institute eine zentrale Rolle.

In den von Ita Wegman seit den 20er-Jahren eingerichteten ärztlichen, heilpädagogischen und heileurythmischen Fortbildungskursen bekam Pracht die Aufgabe, mit den Kursteilnehmern künstlerische und musikalisch-menschenkundliche Grundlagen zu erarbeiten. Zentrales Medium war die Leier. Prachts Arbeitsweise und die von ihm geschaffenen Kompositionen wirkten stark stilbildend und gaben vielen Kursteilnehmern den entscheidenden Anstoß für spätere eigene Ausarbeitungen auf musikalischem Feld. So sind z. B. Karl Königs musiktherapeutische Ansätze oder Gisbert Husemanns Erarbeitung einer plastisch-musikalisch-sprachlichen Menschenkunde nicht ohne die Begegnung mit Pracht zu denken.

Als freier Mitarbeiter schuf Pracht eine Fülle von Lied- und Leierkompositionen für die Ita-Wegman-Klinik und den Sonnenhof. Auf Anfragen der vielen Freunde in den in- und ausländischen heilpädagogischen Instituten entfaltete er nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die letzten Lebensjahre eine rege Reisetätigkeit. Durch Kurse, Vorträge und Kompositionen impulsierte er das Leben vor Ort, oft unterstützt durch seine Frau, die Eurythmistin und Sängerin Alice Pracht-Loudon.

1955 fasste Pracht die künstlerischen Erfahrungen mit dem neuen Instrument in seiner „Einführung in das Leierspiel‟ zusammen. Ungeahnten Aufschwung und methodisch-didaktische Differenzierung erfuhr die Arbeit seit 1961 durch den auf Julius Knierims Initiative hin gegründeten internationalen „Kreis der lehrenden Leierspieler‟, mit Pracht als Spiritus Rector. Von hier aus verbreitete sich die Leierarbeit mehr und mehr über die heilpädagogischen Grenzen hinaus.

Bis in das Jahr 1972 wirkte Pracht tatkräftig an der sich international entfaltenden Arbeit mit. Dann schwächte ihn eine Krankheit und er musste seinen Radius immer weiter einschränken. Die letzten Lebenswochen verbrachte er in der Ita Wegman-Klinik in Arlesheim.

Mit der Schöpfung der Leier und der Entwicklung eines die musikalischen Elemente in ihrer Tiefenschicht ernst nehmenden Übstils war Pracht ein großer und folgenreicher Wurf gelungen. Seine Freunde und Kollegen schätzten in ihm darüber hinaus den klaren Denker mit unbestechlichem Verantwortungsbewusstsein. Die heilpädagogischen Seminaristen erlebten ihn als souveränen, mit Berliner Humor begabten Lehrer, der ihnen nicht nur die Musik, sondern auf originelle Weise auch die Anthroposophie erschloss. Wer seine wenigen erhaltenen plastischen und malerischen Arbeiten sehen konnte, ist beeindruckt von ihrer künstlerischen Kraft.

Der Inspirationsstrom, dem auch die Leier zu verdanken ist, trug dem kompositorischen Autodidakten in den ersten Jahren seit 1926 Melodien zu, von denen einige nahezu volksliedhafte Verbreitung gefunden haben, wie z. B. das Adventslied „Über Sterne‟, das Michaelslied „O unbesiegter Gottesheld‟ oder die „Marjatta‟-Vertonung aus der Kalevala. Auch die in späteren Jahren entstandenen Kompositionen wurden in vielen heilpädagogischen Einrichtungen gerne aufgegriffen. Die Vermittlung geschah meist durch persönliche Begegnung, teilweise auch durch Veröffentlichung in dem von Gotthard Starke gegründeten Verlag „Das Seelenpflege-bedürftige Kind‟.

Gerhard Beilharz

Ereignisse

29.11.1929 - 01.12.1929: Öffentliche Tagung

19.10.1931 - 25.10.1931: Kursus für Medizinstudenten

05.05.1950 - 26.03.1950: Kurs für junge Mediziner

01.04.1953 - 30.04.1953: Ostertagung Akademie Comburg

20.02.1954 - 21.02.1954: Eröffnung des Erweiterungsbaus des Klinisch-Therapeutischen Instituts

25.10.1954 - 25.11.1954: Ausbildungskurs für junge Ärzte

01.01.1955 - 31.12.1955

01.01.1955 - 31.12.1955: Ausbildungskurse für junge Ärzte

12.10.1956 - 17.10.1956: Heilpädagogische Zusammenkunft "Moralische Erziehung"

22.07.1957 - 27.07.1957: Arbeitswoche für heilende Erziehung

01.01.1958 - 31.12.1958

01.01.1962 - 31.12.1962

17.03.1962 - 18.03.1962: 33. Elterntreffen

01.01.1963 - 31.12.1963: Bingenheimer Pfingsttage

22.04.1963 - 17.05.1963: Beginn des einjährigen Schwesternfortbildungsjahres (Vierwöchiger Theoriekurs)

Quellen Erwähnungen

N 1928 S. 131
N 1929 S. 108, 113, 202
N 1931 S. 184
N 1932 S. 59
N 1943 S. 204
N 1953 S. 103, 158
N 1954 S. 45
N 1956 S. 160
N 1958 S. 40, 183
N 1962 S. 70, 172
N 1964 S. 18, 78, 134
N 1966 S. 6, 54, 130, 208
N 1968 S. 13, 54, 122, 161, 186, 189f, 202, 205
N 1973 Nr. 43 L. Gärtner: Zum 75. Geburtstag
N 1974 Nr. 3 Zum 75. Geburtstag
MaD 1950 Nr. 12, S. 43
SbK 1958 Nr. 1 G. Ritter:Zum 60. Geburtstag
SbK 1968 Nr. 2 G.Starke: Zum 70. Geburtstag
Werke: Die Erde hat uns lieb, Stuttgart 1928; Die Eseleinlieder, Malsch 1935; Über Sterne, über Sonnen, Arlesheim 1938; Frau Holle. Sterntaler. Dornröschen. Lieder, Arlesheim 1945; Einführung in das Leierspiel, Konstanz 1955; Mögen Deine heiligen Engel, Konstanz 1955; Die Entwicklung des Musikerlebens in der Kindheit, in: Heilende Erziehung, Stuttgart 1956; Lieder, Bingenheim 1968, ²1974; Der 145. Psalm, Bingenheim 1968; Kalevala 9. Rune, Bingenheim 1968; Kalevala 42. Rune, Bingenheim 1975; Aus den Anfangszeiten des Leierbaus. Zur Entstehungsgeschichte der Leier, in: Hollander, M., Rebbe, P. [Hrsg.]: Die Leier, Dornach 1996; 3 Musikbeilagen in SbK; Übersetzungen ins Englische erschienen; Beiträge in EK, MaD, N, Na, SbK.
Literatur: Gärtner, W. L.: Zum Gedächtnis von Edmund Pracht, in: N 1974, Nr. 45; ders.: Edmund Pracht, in: MaD 1974, Nr. 109; ders.: Erinnerungen an den Beginn des Leierbaus, in: N 1975, Nr. 45; Ginat, C.: Verzeichnis musikalischer Werke, Dornach ²1987; Knierim, J.: Im Gedenken an Edmund Pracht, in: N 1994/95, Nr. 12; Knierim, J.: Vom Musikimpuls mit dem erneuerten Musikinstrument, in: Hollander, M., Rebbe, P. [Hrsg.]: Die Leier, Dornach 1996; Zum 100. Geburtstag von Edmund Pracht. Gedenkheft, in: Lrb 1998, Nr. 10; Beilharz, G.: Edmund Pracht und die Grundlegung der Musik in der anthroposophischen Heilpädagogik, in: Lrb 1998, Nr. 10 und 11.
Abkürzungen: siehe hier
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