Rudolf Grosse

Rudolf Grosse wurde als Sohn des Verwalters der Güter des Grafen Douglas auf Schloss Langenstein am Bodensee geboren. 1914 zog die Familie nach Zürich. Bald brach der Erste Weltkrieg aus und Rudolf verlor 13-jährig seinen Vater, einen heiteren, gütigen Gemütsmenschen. Die Mutter war strenger, lastete doch die Verantwortung für sieben Kinder auf ihr.

1921 wanderte Rudolf Grosse mit Schulfreunden durch den Jura und entdeckte mit Viktor Itschner, der später Chemiker bei der Weleda in Arlesheim wurde, das erste Goetheanum; beide waren tief ergriffen von der Schönheit der Farben und Formen des Doppelkuppel-Baus - und suchten weiter. Grosse hörte Rudolf Steiner zum ersten Mal am 4. Juni 1921 in Zürich über „Naturwissenschaft und Anthroposophie‟ vortragen. Im Publikum entdeckte er seinen verehrten Deutsch- und Geschichtslehrer Jacques Hugentobler. Hugentobler machte seinen Schüler, der ihm zum Freund wurde, in vielen Gesprächen mit der Anthroposophie bekannt und wies ihn auf die im Aufbau befindliche Stuttgarter Waldorfschule hin. In seiner entschiedenen Art meldete sich der 17-jährige Grosse ohne Wissen seiner Mutter vom Gymnasium ab und trat in die zehnte Klasse der Waldorfschule ein. Bald begegnete er Emil Molt während eines Ferienpraktikums in der Waldorf Astoria-Zigarettenfabrik. Molt gefiel die zugriffige Art des Schülers und als er von seinen beengten finanziellen Verhältnissen erfuhr, bot er ihm kostenloses Logis in seinem Haus. Dort traf Grosse des Öfteren Rudolf Steiner und Marie Steiner am Mittagstisch.

Am Ende der Schulzeit gab Steiner den Absolventen der ersten zwölften Klasse eine Berufs- und Lebensberatung. Grosse sagte dezidiert, er wolle Waldorflehrer werden - der erste Waldorfschüler, der diesen Weg einschlug. Entsprechend unkonventionell und individuell war seine Ausbildung. Die Aufnahme ins staatliche Lehrerseminar scheiterte am Numerus clausus. Rudolf Steiner übermittelte ihm daraufhin durch Maria Röschl, er solle an der Hochschule in Stuttgart Vorlesungen über Philosophie und Literatur belegen und an der Waldorfschule hospitieren, wo ihm Caroline von Heydebrand als Mentorin an die Seite gestellt wurde. Kurze Zeit danach beauftragte Rudolf Steiner ihn, einen 12-jährigen Jungen, Richard Grob aus Bern, in Arlesheim zu erziehen. Zum Umgang mit dem verhaltensauffälligen und kleptomanischen Jungen, den auch Schwester Lucia in der „Holle‟, einer Dependance des Klinisch-Therapeutischen Instituts von Ita Wegman, betreute, empfahl ihm Steiner: „Es kommt alles darauf an, dass er Sie lieb gewinnt, dann findet er in dieser moralischen Kraft zu sich selbst.‟ (Grosse 1998, S. 119) Zwischen dem Betreuer und dem sieben Jahre jüngeren Betreuten, der völlig geheilt 1932 das Abitur in Basel bestand, entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft; Schwester Lucia und Rudolf Grosse heirateten 1927. Durch die spezielle und engagierte Erziehungsaufgabe entwickelte Grosse seine hohe pädagogische Begabung zu einer methodisch-didaktischen Meisterschaft, die darin bestand, das Wesentliche herauszugreifen und dieses in einprägsamer Weise knapp und humorvoll zu vermitteln. Seit 1926 war er Lehrer an der Basler Rudolf Steiner-Schule. In seinem Haus lebten zeitweise bis zu zehn Kinder mit zum Teil schweren Entwicklungsstörungen - unter ihnen auch Sandroe Stoughton (s. GA 317, 6. Vortrag). Er verschrieb sich ganz der Waldorfpädagogik und der Aufgabe, „dass man die Liebe zur Menschheit den Kindern als ihr köstlichstes Gut mitgibt‟ (Brief an seine Schwester vom 19. Mai 1924). In seiner Autobiografie „Erlebte Pädagogik, Schicksal und Geistesweg‟ legte Rudolf Grosse für die Kraft des pädagogischen Impulses Rudolf Steiners und seine Fruchtbarkeit - nicht zuletzt in der eigenen Lebensgestaltung und Schicksalsführung - Zeugnis ab.

Rudolf Grosse war ein hinreißender Redner - zart oder wuchtig, humorvoll oder ernst, immer sprach er bildhaft prägnant und stimmungsvoll. Neben seiner Tätigkeit an der Basler Schule wurde Grosse in den 50er-Jahren Dozent am Lehrerseminar am Goetheanum und bald dessen Leiter. Im Herbst 1956 berief ihn Albert Steffen, mit dem ihn zeitlebens eine tiefe Verehrung verband, nach dem Tod von Wilhelm Lewerenz in den Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, er leitete die Sektion für das Geistesstreben der Jugend und später auch die Pädagogische Sektion. Nach dem Tode Guenther Wachsmuths übernahm er für kurze Zeit die Aufgabe des Schatzmeisters. Nach dem Rücktritt von Hermann Poppelbaum wurde er 1966 Erster Vorsitzender der Gesellschaft. Durch seine Vortragsreisen - insbesondere nach Skandinavien und dort vor allem in Finnland und Dänemark - impulsierte er anthroposophische Initiativen in vielen europäischen Ländern sowie in Nord- und Südamerika.

Ein besonderes Engagement Grosses galt der Überwindung jener Entfremdung zwischen Gruppen und einzelnen Menschen, die infolge der Auseinandersetzungen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft in den 30er- und 40er-Jahren entstanden war. Manches konnte er - geduldig und einfühlsam auf das Wesentliche hinführend, immer verlässlich - in klärenden Gesprächen erreichen. Mitglieder, die sich durch die Entscheidungen der Generalversammlung 1935 mit Ita Wegman von der Gesellschaft entfernt fanden, wie F. W. Zeylmans van Emmichoven in Holland oder Cecil Harwood in England, nahmen Grosses integrierendes Wirken wahr und verbanden sich wieder mit dem Goetheanum. Gerade mit Ita Wegman fühlte sich Rudolf Grosse durch seine heilpädagogische Tätigkeit tief verbunden.

Gespräche mit Hans-Werner Zbinden halfen, die Standpunkte in der Nachlassfrage zu klären und einen Brückenschlag vorzubereiten. Der so genannte „Bücherbeschluss‟ - Grosse hatte eine Erklärung zur Nachlassfrage (N 1965, Nr. 18) ausgearbeitet, die an der Generalversammlung 1965 von Hermann Poppelbaum verlesen wurde - geht auf seine Initiative zurück. Auch für die Praxis regelmäßiger Zusammenkünfte der Generalsekretäre am Goetheanum - nach den Intentionen Rudolf Steiners der „erweiterte Vorstand‟ - setzte sich Grosse erfolgreich ein. Die Gedanken und Impulse, die ihn motivierten, hat Grosse in seinen Büchern „Die Weihnachtstagung als Zeitenwende‟ und „Das Wesen Anthroposophie‟ niedergelegt. Den Hintergrund seiner Handlungen bildete die Beschäftigung und Verbindung mit Geschichte und Gegenwart des Mysterienwesens - schriftlichen Niederschlag fand dieses Interesse beispielsweise in seinem Buch „Der Silberkessel von Gundestrup‟. Im April 1984 trat er als Erster Vorsitzender der Gesellschaft zurück, im März 1988 schied er aus der aktiven Vorstandsarbeit aus.

Die letzten Lebensjahre verbrachte er im Altersheim. Als seine Augen schlechter wurden, saß Grosse oft sinnend in seinem Zimmer, vor sich auf dem Tisch die Brieftasche, die voller Fotos verstorbener Freunde war. Ich fragte ihn: „Was tust du den ganzen Tag, wenn du hier in deinem Zimmer sitzt?‟ Er wies auf die Brieftasche mit den Fotos und sagte: „Das! Ich denke über meine Begegnung mit diesen Menschen nach.‟

Rudolf Grosse starb im 90. Lebensjahr in den frühen Morgenstunden des 16. Oktobers 1994, auf den Tag genau fünf Jahre nach seinem Vorstandskollegen Friedrich Hiebel.