Gerhard Kienle war unzweifelhaft einer der wirksamsten und erfolgreichsten Anthroposophen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihm gelang in beispielloser Pionierarbeit die Gründung eines ersten anthroposophischen Studentenhauses in Tübingen, eines anthroposophischen Großklinikums im Ruhrgebiet sowie die Schaffung einer staatlich anerkannten Universität in privater Trägerschaft - im Zeichen eines freien Geisteslebens und einer künftigen Bearbeitung zentraler wissenschaftlich-sozialer Fragestellungen. Darüber hinaus vermochte Kienle erfolgreich wissenschaftlich tätig zu werden - mit Promotion und Habilitation zu originär Steinerschen Forschungsfragen -, das Arzneimittelgesetz in Deutschland zugunsten eines methodischen Pluralismus weiterzuentwickeln und sich eine große wissenschaftliche und öffentliche Reputation zu erwerben. Obwohl zu seinen Lebzeiten von vielen Anthroposophen verkannt, arbeitete er in verbindlicher Treue zu den Grundanliegen Rudolf Steiners, setzte sich kompromisslos und mit seiner ganzen Existenz für diese ein und schuf große soziale Entwicklungsräume in einem durchgehend spirituellen Duktus und mit wachsamer, konsequent zukunftsbezogener Aufmerksamkeit für die zeitgeschichtlichen Kräfte. „Wirksam werden wollen heißt, sich vorbereiten, für die Anforderungen des Schicksals fähig zu sein. Es verlangt ein Erfassen und Sich-Hineinstellen in den Augenblick. Aktive Wirksamkeit verlangt intensives Hinhören auf die Sprache des Schicksals, vollständige Hingabe.‟ (Brief Gerhard Kienles an Gisela Hörtreiter, 17.6.1956)
Gerhard Kienle wurde am 22. November 1923 in Madrid geboren, wo sein Vater, der dem Diplomatischen Dienst des Auswärtigen Amtes angehörte, vorübergehend tätig war. 1926 kehrte die Familie nach Berlin zurück, doch gab es in der Kindheits- und Jugendzeit Gerhard Kienles noch wiederholte und längerfristige horizontbildende Auslandsaufenthalte durch die väterliche Berufstätigkeit, so beispielsweise in Estland (1935) und Guatemala (1935/36). Wilhelm Kienle und seine Ehefrau Erika, geb. Krüger, die engagiert als Fürsorgerin (Sozialarbeiterin) arbeitete, waren spirituell suchende, weitgehend heimatlose Menschen, die sich verschiedenen religiösen Gruppierungen anschlossen, darunter den Freimaurern, Rosenkreuzern und Mazdaznianern. Kienle selbst fand auf eigenständigen Wegen 16-jährig eine Verbindung zur Christengemeinschaft - insbesondere zu dem Berliner Priester Otto Palmer -, blieb jedoch vorerst in einem wachen und abwägenden Verhältnis zur Anthroposophie, deren Arbeitsergebnisse er konsequent als wissenschaftliche Hypothesen betrachtete und zu überprüfen begann. In distanzierter Haltung zum nationalsozialistischen Regime nahm er 1941 in Berlin sein Medizinstudium an der Militärärztlichen Akademie auf, begründete 1943 in Würzburg im Untergrund erstmals eine anthroposophische Studentengruppe, die er für eine freie Universitätsgründung nach dem Weltkriegsende vorbereiten wollte, und wurde im Herbst 1944 bei Arnheim in seiner Tätigkeit als Hilfsarzt verwundet. Noch im Lazarett entwickelte er Pläne zur Errichtung eines neuen, sozialen und auf der Anthroposophie fundierten Krankenhaustyps, um die Freiheit der Medizin im Sinne einer schicksalsermöglichenden, auf das Ich des Kranken abgestimmten Heilkunst gegenüber allen staatlichen und sozialadministrativen Einflüssen bewahren zu können. Nach dem Kriegsende bildete er in Tübingen, wo er sein Medizinstudium ab Oktober 1945 weiterführte, erneut eine anthroposophische Studentengruppe, diesmal jedoch mit öffentlichkeitswirksamem und ausstrahlendem Duktus. Zusammen mit einigen anthroposophischen Studienfreunden (wie u.a. Siegfried Gussmann und Oleg Selawry) und mit Unterstützung durch Diether Lauenstein entwickelte sich eine streng methodische Arbeit an Steiners Werk, ergänzt um fachspezifische Arbeitsgruppen und öffentliche Vorträge innerhalb der Universität und im Rahmen der Gruppe. Gemeinsam mit Diether Lauenstein ging es Kienle um den Aufbau kulturell wirksamer Einrichtungen im Sinne eines freien Geisteslebens. Beide versuchten in Tübingen den methodischen Boden zu bereiten und die Menschen zu sammeln, im Hinblick auf eine spätere Krankenhaus- und Universitätsgründung und eine Einflussnahme auf die akademisch-kulturelle Entwicklung des Abendlandes, insbesondere auch auf eine künftige Sozialordnung der Medizin und Gesellschaft.
Die Stuttgarter Hochschulwochen (ab 1947) betrachtete Kienle geradezu als „Generalprobe für die Realisierungsmöglichkeit einer staatsfreien, anthroposophisch getragenen Universität - 1950 brachte er auf einer Versammlung der deutschen Landesgesellschaft erstmals einen Antrag zur Vereinigung aller bisherigen anthroposophischen Seminare in Stuttgart (Christengemeinschaft, Waldorfschule, Freies Studienjahr) als Vorstufe einer eigenständigen Universitätsgründung ein. Seine Pläne erfuhren jedoch keinerlei Resonanz in den damaligen Führungsgremien. - Parallel dazu nahm Kienle die wissenschaftliche Arbeit auf und verfolgte nach seiner Promotion 1948 innerhalb des Physiologischen Institutes der Universität Tübingen die Frage der „motorischen Nerven, worüber er umfangreiche Manuskripte unter Zugrundelegung der gesamten fachwissenschaftlichen Literatur ausarbeitete (u.a. „Die Grundfragen der Nervenphysiologie, 1950). Auch deren Rezeption der anthroposophischen Ärzteschaft war für Kienle nachhaltig enttäuschend.
Nach klinischen Arbeiten in Tübingen und homöopathischen Forschungsstudien in Stuttgart ging Kienle Anfang 1951 für zweieinhalb Jahre in die Schweiz, wo er ärztlich zwei heilpädagogische Heime betreute, neurophysiologisch an der Universität Zürich forschte und zugleich die Gründung eines künftigen anthroposophischen „Gemeinschaftskrankenhauses vorbereitete - durch spezielle Schulungsseminare (u. a. mit Herbert Sieweke und Ernst Marti), theoretische Ausarbeitungen und Prüfung erster Gebäudeübernahmen und Bauoptionen. Im Herbst 1953 begann Kienle eine universitäre Facharztausbildung bei dem renommierten Psychiater Ernst Kretschmer in Tübingen und verfasste in den folgenden Jahren erste bemerkenswerte Publikationen zu einer Vielzahl psychiatrischer, neurologischer und anthropologisch-anthroposophischer Themen. 1957 schloss er den Lebensbund mit der anthroposophischen Ärztin Gisela Hörtreiter.
Ende der 50er-Jahre begann Kienle neben der Tätigkeit an der Universitätsklinik seine extensiven neurophysiologischen, mathematischen und statistischen Studien, die die nichteuklidische Struktur des menschlichen Sehraums aufzeigen und 1966 zur Habilitation und zur (nachfolgenden) Buchpublikation führen sollten, des Weiteren die gemeinsamen Vorbereitungsarbeiten mit Diether Lauenstein für ein erstes anthroposophisches Studentenheim, das schließlich 1963 als Johann Gottlieb Fichte-Haus seine Türen öffnete und eine ausgesprochen fruchtbare Tätigkeit entfaltete. Parallel dazu durchdrang Kienle wichtige Probleme seines medizinischen Fachgebietes und verfasste dabei nicht nur eine international anerkannte Monographie über die Notfalltherapie in der Neurologie und Psychiatrie, sondern trat mit einer weiteren Schrift in die damaligen Diskussionen um die zukünftige Gestaltung eines zeitgemäßen Krankenhauses ein; darüber hinaus setzte er sich Anfang der 60er-Jahre erstmals intensiver mit den kommenden Entwicklungen in der Arzneimittelgesetzgebung und Gesundheitspolitik auseinander und plädierte innerhalb der Arbeitsgemeinschaft Anthroposophischer Ärzte (er war Mitglied des erweiterten Vorstandes) für die Schaffung eigener Arzneimittelkommissionen zur Ausarbeitung spezifischer Wirksamkeits-Nachweismethoden der anthroposophisch-homöopathischen Medikationen, allerdings erneut ohne jede Resonanz. Durchgängig vertrat Kienle die Auffassung, dass es die Aufgabe der Anthroposophen sei, sich existenziell mit den gegenwärtigen Weltproblemen zu beschäftigen, nicht „in Lösungen zu missionieren‟, sondern im Ringen mit den Sachfragen neue Wege aufzuzeigen, vorzudenken und auszugestalten - und sich dadurch fachlichen Respekt und Anerkennung in der Welt zu erwerben. Obgleich er lebenslang in innerer Loyalität mit zentralen anthroposophischen Institutionen (wie der Hochschule in Dornach, der Hochschule der Christengemeinschaft in Stuttgart oder der deutschen Landesgesellschaft, deren Vorstand er angehörte) arbeitete - Institutionen, die er als gewichtige Zivilisationsfaktoren betrachtete bzw. weiterentwickeln wollte -, waren Kienle deren Aktivitäten meist viel zu eng umgrenzt, zu selbstbezogen und an den eigentlichen Intentionen Rudolf Steiners vorbeigehend. Kienle wollte von anthroposophischer Seite offensive, die gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit mitgestaltende und mitverantwortende Aktivitäten, zugleich den Eintritt in den wissenschaftlichen Diskurs, den er als ein zentrales Lebensanliegen Rudolf Steiners erkannt hatte. Damit aber stand er oft genug alleine.
Von 1964-69 arbeitete Gerhard Kienle als leitender Oberarzt an einer der modernsten neurologischen Abteilungen in Frankfurt, wurde Privatdozent an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität, veranstaltete wissenschaftliche Symposien und hielt Vorlesungen; darüber hinaus leistete er gemeinsam mit seinem ärztlichen Kollegen Anselm Basold die Hauptarbeit zur Vorbereitung des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke, das schließlich im November 1969 - nach fast 18-jährigem Bemühen vonseiten Kienles und Verlust aller ehemaligen Mitstreiter - unter größter öffentlicher Anteilnahme in Betrieb genommen werden konnte.
„Herdecke‟ war das erste anthroposophische „Allgemeinkrankenhaus‟ mit Akutversorgung und fast 200 Betten; seine Eröffnung fiel in eine Zeit des intensiven gesellschaftlichen Diskurses über die Freiheit des Menschen, den Abbau autoritärer Sozialsysteme und die „Mündigkeit‟ des Patienten innerhalb einer Medizin, die mehrheitlich als individualitätsverneinend und technikzentriert erlebt wurde. Kienle selbst war Sprecher des Kollegiums der leitenden Ärzte und arbeitete hauptverantwortlich auf der neurologischen Abteilung des Hauses - er war der unumstrittene Spiritus Rector des Ortes, auch das soziale Zentrum der Großgründung. Weniger bestimmend als überzeugend stand er in dessen Mitte, kannte die Einzelnen und förderte ihre Weiterentwicklung mit großer, ermutigender und lichter Kraft.
1970 konnte bereits eine assoziierte Krankenpflegeschule eröffnet werden, im Sinne der Kienleschen Intention, modellhafte und wirksame Marksteine für die Humanisierung und damit Individualisierung der Medizin zu errichten - in Richtung einer Verchristlichung der Heilkunst und mithilfe der Anthroposophie. Kienle selbst begab sich im selben Jahr entschieden in die wieder beginnenden Auseinandersetzungen um eine Reform des deutschen Arzneimittelgesetzes, das zu dieser Zeit aufgrund erster „Arzneimittelkatastrophen‟ (Contergan, Menocil) und auf internationalen Druck hin in ein Instrumentarium zur Selektierung „wirksamer‟ Substanzen aufgrund naturwissenschaftlich-subjektloser Verfahren (Doppelblindversuch) umgewandelt werden sollte, mit obligaten Tierversuchsprüfungen und entsprechender Ermächtigung einer staatlichen Aufsichtsbehörde (Bundesgesundheitsamt). Trotz vieler bedächtiger und auf Wahrung der Eigeninteressen zentrierter Warnungen führte Kienle die Diskussion nicht mit dem Ziel, Ausnahmeregelungen für bestimmte Arzneimittel zu erreichen, sondern die wissenschaftlichen Paradigmen der weithin propagierten formal-dirigistischen Steuerungssysteme zu hinterfragen, ja zu widerlegen und die Humanmedizin erkenntniskritisch und im Hinblick auf die Individualität des Menschen weiterzuentwickeln. Ohne jede Unterbrechung setzte Kienle diesen wissenschaftlichen Kampf bis 1983 fort, von nur wenigen Mitarbeitern (wie insbesondere Rainer Burkhardt) unterstützt und dennoch insgesamt ausgesprochen erfolgreich. Nicht zuletzt Kienles wissenschaftlichen Gutachten und Argumenten war die methodenpluralistische Fassung des Arzneimittelgesetzes von 1976 zu verdanken, das den Herrschaftsanspruch der Hochschulmedizin relativierte, aber auch wesentliche weitere Entwicklungen (wie beispielsweise hinsichtlich der Approbationsordnung für Ärzte oder des Krankenpflegegesetzes) gingen auf seine Interventionen zurück. In Bonn war Kienle zu dieser Zeit eine längst anerkannte Größe und ein geschätzter, wenn auch zugleich gefürchteter Diskussionspartner in Fachausschüssen und auf Symposien. Seine Wahrheitssuche, seine individuelle Urteilskraft und sein Engagement sorgten für Respekt, selbst in den Reihen seiner Gegner.
Ab 1976 versuchte Kienle gemeinsam mit Diether Lauenstein, aber auch mit Herbert Hensel und Karl Ernst Schaefer, die aufgenommenen Grundsatzdiskussionen mit dem herrschenden Positivismus im größeren Rahmen fortzuführen und die seit langem geplante Universitätsgründung in die Tat umzusetzen. Kienle gelang es nach einem erfolgreichen ersten Symposion, eine „Stiftung Freie Europäische Akademie der Wissenschaften (FEAW)‟ im Sommer 1976 zu begründen und über 60 internationale Hochschullehrer mit anthroposophisch-anthropologischen Anliegen zu vereinen, bereits im Herbst desselben Jahres einen Reformstudiengang für Medizin in Herdecke zu etablieren und somit in die nähere Vorbereitung einer realen Hochschulgründung einzutreten. Mit einem kleinen wissenschaftlichen Mitarbeiterstab brachten insbesondere Kienle, Lauenstein und Hensel die konzeptionelle Arbeit voran, während der Arzt Konrad Schily die politischen Prozesse und Entscheidungen nachhaltig beförderte. Trotz erneut kräftezehrender inneranthroposophischer Kontroversen war die öffentliche Anteilnahme an dieser Modelluniversität wiederum hoch und mitentscheidend - im Sommer 1982 wurde deren Genehmigung von staatlicher Seite ausgesprochen. - Als aber die Universität Ende April 1983 eröffnet wurde, lag Gerhard Kienle, dessen Lebenswerk sie war, schwer krank auf der Intensivabteilung seines Gemeinschaftskrankenhauses, „eingespannt in das ganze Arsenal der modernen Medizin des 20. Jahrhunderts (Dumke), die er sich überwindend auf sich nahm. Dort verstarb Kienle am 2. Juni 1983, dem Fronleichnamstag, nach einem vollkommen hingebungsvollen, sich selbst opfernden Leben.
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Werke: Das Gemeinschaftskrankenhaus, Tübingen 1961; Notfalltherapie neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen, Stuttgart 1964, ³1978; als Herausgeber: Hydrodynamik, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalt im Liquor und Nervensystem, Stuttgart 1967; Die optischen Wahrnehmungsstörungen und die nicht-euklidische Struktur des Sehraums, Stuttgart 1968; Arzneimittelsicherheit und Gesellschaft. Eine kritische Untersuchung, Stuttgart 1974; mit Burkhardt, R.: Die Zulassung von Arzneimitteln und der Widerruf von Zulassungen nach dem Arzneimittelgesetz von 1976, Stuttgart 1982 und Der Wirksamkeitsnachweis für Arzneimittel. Analyse einer Illusion, Stuttgart 1983; Die ungeschriebene Philosophie Jesu, Stuttgart 1983; Christentum und Medizin, Stuttgart 1986; Beiträge in Sammelwerken; Übersetzungen in verschiedene Sprachen; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften und BeH, weitere in Arb, BaS, DD, MaD, Wa, WKÄ.
Literatur: Lauenstein, D.: Gerhard Kienle, in: MaD 1983, Nr. 145, auch in: Selg, P. [Hrsg.]: Anthroposophische Ärzte, Dornach 2000; Hemmer, W.: Gerhard Kienle. Er schwamm gegen den Strom, in: Medicale Tribune, 14.10.1983; Schily, K.: Dr. med. habil. Gerhard Kienle, in: N 1983, Nr. 33; Büttner, G.: Im Gedenken an Gerhard Kienle, in: BeH 1983, Nr. 5; Gussmann, M.: Gerhard Kienle, in: DD 1983, Nr. 7/8; Worel, A.: Gerhard Kienle - ein Streiter für das freie Geistesleben, in: BaS 1983, Nr. 15; Wittich, J.: Zum Tode von Gerhard Kienle, in: I3 1983, Nr. 7/8; Dumke, K.: Gerhard Kienle, in: Jahrbuch der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland 1984; Selg, P.: Gerhard Kienle und die Humanisierung der Medizin, in: Mst 1999, Nr. 5; ders.: Anfänge anthroposophischer Heilkunst, Dornach 2000; ders.: Spatenstiche des Willens tun, in: G 2001, Nr. 9; ders.: Gerhard Kienle. Leben und Werk, Bd. I/II, Dornach 2003.
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