Martin Tittmann

Studienrat Tittmann, Martin

Dichter, Sprachforscher, Waldorflehrer.

*10.09.1888, Leipzig (Deutschland)

✟23.05.1968, Stuttgart (Deutschland)

Martin Tittmann gehört zu den Lehrern, die auf Vorschlag Rudolf Steiners an die erste Waldorfschule berufen wurden. Den Forschungen Steiners folgend, entwickelt er eine phänomenologisch-goetheanistische Betrachtungsweise der Sprache, die als Lautwesenskunde veröffentlicht ist. Beim Wiederbeginn nach der Verbotszeit ist Tittmann maßgeblich am Aufbau der Waldorfschule Stuttgart als Lehrer und als Dozent am Lehrerseminar beteiligt. Erziehung und Sprache ist das Thema, das in immer neuer Sicht in Vorträgen, in Zeitschriftbeiträgen und in dem Buch „Deutsche Sprachlehre der Volksschulzeit‟ von Tittmann behandelt worden ist.

Martin Tittmanns Vater, Volksschullehrer in Leipzig, stammte aus dem niederen Erzgebirge. Er war sehr ernst, streng und wortkarg, fast düster, leicht von mächtigem Zorn gepackt, ein gewissenhafter und rastloser Arbeiter. Seine Mutter, 12 Jahre jünger als der Vater, kam aus Koethen. Sie war im Gegensatz zum Vater heiter, lebensfroh. Das erste Kind war mit eineinhalb Jahren gestorben. So wächst Martin - ein Achtmonatskind - ohne Geschwister auf. Er ist körperlich zart und häufig krank. Nach der Volksschule besucht er das Nicolai-Gymnasium, das ihm wenig Nahrung fürs Gemüt, aber viele Freundschaften bringt. Fast alle Förderung kommt aus drei Richtungen: von den Gesprächen mit den Freunden, von Ferienwanderungen mit dem Vater im Gebirge - stille werden und staunend schweigen vor der Größe der Natur - und schließlich von Büchern. Als er 15 Jahre alt ist, stirbt sein Vater. In dieser Zeit lernt er seine spätere Lebensgefährtin, die fünf Jahre jüngere Marianne Gutzschebauch, Tochter eines Buchhändlers, kennen. Der 15-Jährige sucht in den religiös-sozialreformerischen Schriften von Tolstoi Antwort auf seine Fragen. „Liebe das Böse gut‟ wird ihm zur Lebensmaxime. Er will Pfarrer werden, lernt Hebräisch. Die Gottesbeweise, die er kennen lernt, versagen; er bricht mit der Kirche. „Mit 18 Jahren berauscht er sich an Nietzsches Zarathustra. Die Erleuchtung und Verfinsterung dieses tragischen Geistes erschüttert ihn so, dass er, zum Leidwesen seiner Lehrer, in eine Protesthaltung gegen alles gerät, was ihm bisher als unantastbar galt. „Der Weg von Tolstoi zu Nietzsche kennzeichnet die geistige Spannweite des jugendlichen Tittmann.‟ (Tautz 1968) Schon in der Schulzeit bewegen ihn erkenntnis-theoretische Fragen: Ist reine Logik ausreichend zur Begründung einer Welterkenntnis? Nein, ist seine damalige Antwort. „Alle Wahrnehmungen des Ich müssen herangezogen werden. Das Tiefste kann nicht gedacht, muss gefühlt werden‟. (Autobiografische Skizze, unveröffentlicht)

1908-14 Studium, zuerst zwei Jahre Mathematik und Naturwissenschaften in Heidelberg und dann vier Jahre Germanistik in München und Leipzig. Gedichte, die Ende der Schulzeit und während des Studiums entstanden sind, werden von ihm in Dichterlesungen vorgetragen. „Beatus‟, ein Entwicklungsroman, wird abgeschlossen. Aus dem Freundeskreis seien nur zwei Namen genannt: der Schriftsteller Victor Meyer-Eckhardt und der spätere Professor Herbert Schöffler. Bei der Kriegserklärung empfindet er unendliche Trauer, dass jetzt das Morden beginnen soll. Die begonnene Dissertation über Mörikes Prosastil lässt er unvollendet; Teile von ihr verwendet er zu einer Staatsexamensarbeit für das höhere Lehramt. 1915 wird er zum Militär eingezogen. Nach dem Einsatz an der Ostfront wird er 1918, inzwischen Leutnant, an die Westfront versetzt. Kriegstrauung mit Marianne, seiner langjährigen Verlobten, die inzwischen Lehrerin an der Gaudig’schen Reformschule ist. Nach schweren Kämpfen bei Amiens - Todesnähe - erkrankt er und kommt ins Heimatlazarett. Durch Christian Morgensterns „Wir fanden einen Pfad‟ begegnet er der Anthroposophie. Von Tolstoi über Nietzsche und Morgenstern zu Steiners „Philosophie der Freiheit‟ - 15 Jahre des Suchens finden Erfüllung und Neubeginn. Nach gründlichem Überprüfen tritt er 1920 in die Anthroposophische Gesellschaft ein. Er nimmt an den Hochschulkursen in Darmstadt (GA 77a) und Dresden teil. Nach Steiners Auftritt in der Leipziger Universität bietet Tittmann ihm seine Mitarbeit an, wo immer er ihn brauchen könne. 1922 wird er auf Vorschlag von Steiner an die Waldorfschule berufen, zuerst als Sprachlehrer, später als Klassenlehrer. Im Jahre 1938, nach dem Verbot der Waldorfschule in Stuttgart, geht er mit seiner Frau und seinen vier Kindern nach Dresden und unterrichtet dort an der Rudolf Steiner-Schule, bis auch sie 1941 verboten wird. Nach der Zerstörung Dresdens 1945 kehrt er nach Süddeutschland zurück und bereitet unmittelbar nach Kriegsende den Wiederbeginn der Waldorfschule in Stuttgart vor. Wieder ist er Klassenlehrer und Dozent am Lehrerseminar, außerdem noch über zehn Jahre Mitherausgeber der Zeitschrift „Erziehungskunst‟. Nun ist er auch Lehrer des Freien Religionsunterrichts. Er dichtet jedes Jahr aufs Neue für jeden seiner Schüler einen Zeugnisspruch und für die Klasse ein dem Alter angemessenes Theaterstück, das im Unterricht einstudiert und vor den Eltern oder der ganzen Schulgemeinschaft aufgeführt wird. Die gesammelten Spiele und die Zeugnissprüche sind veröffentlicht und weit in den Waldorfschulen verbreitet. 1964 gibt er eine Auswahl seiner Gedichte heraus.

Entsprechend dem Kapitel über die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben in Goethes Farbenlehre erforscht Tittmann in seiner „Lautwesenskunde‟ die sinnlich-sittliche Wirkung der Laute. Die Beziehung zwischen den Entwicklungsschritten des Kindes und den Formen der Grammatik aufzuzeigen und dementsprechend im Unterricht zu behandeln, sodass Sprachform und Sprachbau dem Heranwachsenden Form und Sicherheit geben, ist das Anliegen von Tittmanns „Deutscher Sprachlehre der Volksschulzeit, menschenkundlich begründet nach Anregungen Rudolf Steiners‟. Diese Schrift gibt der Grammatik die Würde zurück, die sie einst als eine der sieben freien Künste innehatte.

Was Tittmann, angeregt durch Steiner, zu dem Thema Erziehung und Sprache beigetragen hat, bildet eine Grundlage für eine fruchtbare Weiterentwicklung der Spracherkenntnis.

Michael Tittmann

Quellen Erwähnungen

N 1929 S. 126
N 1930 S. 51
N 1931 S. 40
N 1964 S. 243
N 1968 S. 176 b
MaD 1947 Nr. 1, S. 12
MaD 1952 Nr. 19, S. 44
MaD 1958 Nr. 45, S. 159 Herbert Hahn: Zum 70. Geburtstag
MaD 1968 Nr. 84 Todesanzeige
Lebensbilder Kräherwald, Band II, Stuttgart 2013, S. 32, 93f

Info

Waldorflehrer, Dichter.
Werke: Keimende Gärten (L), Leipzig 1910; Der Ritt durch das Jahr. Kindergedichte, Stuttgart 1955, Dornach ³1995; Freundschaftsprobe. Drei Erzählungen, Stuttgart 1958; Deutsche Sprachlehre der Volksschulzeit, Stuttgart 1962, 4 1988; Sieh der Stunde hohes Staunen (L), Stuttgart 1964; Lautwesenskunde, Stuttgart 1979; Zarter Keim die Scholle bricht. Zeugnissprüche, Stuttgart 1981, ²1994; Szenen und Spiele für den Unterricht, Bd. I/II, Stuttgart 1997/2001; Beiträge in Sammelwerken; Übersetzung ins Niederländische erschienen; zahlreiche Beiträge in EK, ZP, weitere in A, CH, DD, G, Leh, MaD, Msch.
Literatur: Kügelgen, H. v.: Martin Tittmann, in: EK 1968, Nr. 9; Kayser, H.: Nachruf für Martin Tittmann, in: K 1968, Nr. 9; Tautz, J.: Martin Tittmann, in: RUh 1968, Nr. 44; Tautz, J.: Martin Tittmann, in: MaD 1968, Nr. 85, auch in: Husemann, G., Tautz, J.: Der Lehrerkreis, Stuttgart 1977; Schöffler 1987.
Abkürzungen: siehe hier
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