Kathleen Schlesinger

Schlesinger, Kathleen

Archäologin, Musikwissenschaftlerin.

*27.06.1862, Holywood, Belfast (UK)

✟16.04.1953, London (UK)

Kathleen Schlesinger entdeckte und verstand die Harmoniai des antiken Griechenland neu, setzte sich mit Rudolf Steiner in Verbindung und mit Gesichtspunkten der anthroposophischen Geisteswissenschaft auseinander. 1939 erschien ihr Hauptwerk „The Greek Aulos‟ und ihre Arbeit ist bis heute in zahlreichen Arbeitsrichtungen fruchtbar - im Instrumentenbau, in Komposition und Interpretation, in der Musiktherapie, Toneurythmie und Ton-Heileurythmie.

Über ihre Kindheit, Jugend und Ausbildung ist wenig bekannt. Seit 1895 publiziert Kathleen Schlesinger über musikalische Themen in der Londoner Presse. 1910 erscheint ihr erstes Buch über die Instrumente des Orchesters, das auch heute noch einen guten Ruf genießt. In der Encyclopaedia Britannica von 1911 erscheinen insgesamt 125 Artikel über Musikinstrumente aus ihrer Feder.

1914 entdeckt sie den Schlüssel zum Verständnis der griechischen Skalen. Am Monochord feststellend, dass die Verhältnisse der Obertonreihe sich umgekehrt proportional verhalten zu den von den einzelnen Obertönen aus abwärts verlaufenden Intervallschritten. Dabei bilden sich auf dem Monochord aus diesen Proportionen arithmetische Reihen - und damit in den dazugehörigen Frequenzen harmonische Proportionen - abwärts zum Grundton der Saite, die das Material der noch von den alten Griechen beschriebenen Modi und Harmoniai der Antike enthalten und die Pythagoras von den Sphärenharmonien aufs Monochord übersetzt hat.

Aufgrund der Erforschung von unzähligen Flöten und Auloi der antiken griechischen Zeit u. a. der so genannten Elgin-Auloi (5. Jh. v. Chr.), die Lord Elgin bei den Ausgrabungen von der Akropolis nach London ins Britische Museum gebracht hatte, sah sie in ihrer Entdeckung sowohl einen vollkommenen als auch organischen Schlüssel, um zu den ersten konstituierenden Grundlagen einer Urmusik zurück zu gelangen. Die Intervalle und Tonhöhen der griechischen Auloi und der diversen antiken Flöten wurden akribisch gemessen und die Skalen notiert. Die Resultate setzte sie in Zusammenhang mit der chaldäisch-sumerisch inspirierten Lehre der Sphärenharmonien, die von Pythagoras in Europa wissenschaftlich auf ganzzahlige Verhältnisse gegründet ausgearbeitet wurde und die Grundlage für unsere abendländische Musiktradition bildet. Die so genannten Tafeln des Alypius musicus (4. Jh. n. Chr.) sowie das Manuskript Anonymos Bellermann halten diese in Form einer Zuordnung des damaligen Tonmaterials der diatonischen, chromatischen und enharmonischen Skala mit sämtlichen griechischen Buchstaben in Vokalnotation und Instrumentalnotation fest. Die sieben Haupttonarten (Harmoniai) der Griechen - die hypodorische, hypophrygische, hypolydische, dorische, phrygische, lydische, mixolydische - werden in esoterischer Betrachtung den sieben Planeten zugeordnet - Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur, Mond.

Kathleen Schlesinger beschäftigte sich mit der Geschichte dieses aufeinander abgestimmten Systems der sieben Harmoniai und Modi im Verständnis der pythagoräischen Lehre und Übung; ferner damit, wie die ihnen eigene systematische Organik sich in der weiteren Bewusstseinsentwicklung mit den für das organische Leben unzureichenden Verstandeskräften auseinandersetzen muss. Schlesinger schließt auf das ursprüngliche Vorhandensein einer siebenfältigen Gestalt der griechischen Harmoniai und den allmählichen Verlust dieser Anlage in verschiedenen Entwicklungsschritten, die das systematische musiktheoretische Denken bisher durchlaufen hat. In den alten Mysterien konnte noch erlebt werden, wie der Sonnengeist inmitten der Planeten klang, und Pythagoras sei der Letzte gewesen, der diese Initiation noch errungen habe. (GA 155, 16.7.1914) So lehrte Pythagoras die durch ganzzahlige Verhältnisse geordneten Tonstufen der Harmonia (=Tonleiter) am Monochord aufgrund deren äquidistanter Saitenlängen gleichlanger Teile. (s.a. Friedrich Hiebel, Die Botschaft von Hellas, Bern 1953)

Seit etwa 1915 ist Kathleen Schlesinger als Fellow of the Institute of Archaeology der Liverpool Universität am British Museum tätig. 1916 trifft sie auf die australische Pianistin und Komponistin Elsie Hamilton (1880-1965) und Jahre der fruchtbaren, sich wechselseitig inspirierenden Zusammenarbeit beginnen. Elsie Hamilton, die sich nach Studien bei Alban Berg und André Gedalge den sieben Harmoniai zuwendete, beginnt bereits 1917 in Demonstrationen eigener Kammermusikwerke die Planetenskalen für moderne Kompositionen anzuwenden. Es folgt 1919 ein Bühnenwerk, „Sensa‟, mit Libretto von Mabel Collins.

Schlesinger war bereits Mitglied der Theosophischen Gesellschaft in England, nun wird sie am 10. März 1921 in London Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und reist von April bis Mai mit Elsie Hamilton nach Dornach, um Rudolf Steiner über ihre Arbeit in Kenntnis zu setzen. Elsie Hamilton wird eingeladen, die Musiker Dornachs über die Wiederentdeckung der griechischen Skalen zu unterrichten. Sie konnten dies gut verstehen, hatten jedoch Mühe, das Gehörte mit früheren Äußerungen Steiners zusammen zu sehen. (Brief von Hamilton an Steiner, 31. Mai 1921, Archiv der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, Dornach) Klarstellende Worte Steiners erfolgen in einer Fragenbeantwortung am 5. Januar 1922: „... Also ich glaube schon, dass es eine gewisse Aussicht hat, wenn diese besondere Entdeckung weiter verfolgt wird und wenn man sich im musikalischen Empfinden an diese Modi gewöhnt.‟ (GA 303, 1987, S. 349)

Die Einladung von Rudolf Steiner an Kathleen Schlesinger an der von Daniel N. Dunlop organisierten Summer School in Oxford teilzunehmen wurde erst 1923 in Penmaenmawr/Wales realisiert. Dort fand eine Demonstration der planetarischen Tonarten statt. Kathleen Schlesinger sprach über „Die Planetarischen Harmonien in Bezug auf die moderne Musik und auf die Geisteswissenschaft‟. Sie berichtet dabei auch von der Entwicklung einer „Modalen Ton-Eurythmie‟, die von Rudolf Steiner bestätigt worden war. Mit „Agave‟, einer szenischen Mime mit Musik von Elsie Hamilton, wurde die Modale Eurythmie in London im Dezember 1923 erstaufgeführt.

Rudolf Steiner wünschte die Mitwirkung von Kathleen Schlesinger und Elsie Hamilton bei der Neuinszenierung seiner vier Mysteriendramen im ersten Goetheanum. Der Brand verunmöglichte dies. 1926 sprach Kathleen Schlesinger an der Musikertagung in Dornach über „The significance of the Planetary Modes (Greek modes) for the music of the immediate future”. Elsie Hamilton konzertierte indessen mit einem Programm eigener Werke und Volksliedern in den Planetentönen. 1929 erfolgte eine Aufführung der Mime „The Scorpions of Ysit” in London durch Elsie Hamilton. Nach einem Aufenthalt in Finnland in den frühen 30er-Jahren verbrachte Elsie Hamilton die Jahre 1935-37 in Stuttgart und leitete dort eine Einführung in die Skalen in Zusammenarbeit mit einem Kammerorchester.

1939 erschien in London Kathleen Schlesingers Hauptwerk „The Greek Aulos‟. Im Jahre 1940 kehrte Elsie Hamilton nach Australien zurück, nachdem sich Mary Wilbers und Wilhelmina Roelvink zur Unterstützung und Fortführung der musikalischen Arbeit eingefunden hatten. Dadurch konnte an verschiedenen Orten - zunächst vor allem in Brissago, Arlesheim, Freiburg i/Br., Bremen, Wynstones, Finnland und Kalifornien - bis heute mit den Entdeckungen Kathleen Schlesingers weitergearbeitet werden.

Gotthard Killian

Quellen Erwähnungen

N 1926 S. 122, 166
N 1968 S. 25
N 2001 S. 58 f
MAVN 1995 Nr. 6, S. 35f
AW 2014 Nr. 7-8, S. 15

Info

Entdeckte die altgriechischen Aulosskalen 1914
Werke (Auswahl): The Military Traditions of the City of London, in: Pall
Mall Magazine 1900; mit Geniaux, C.: Hypnotism: A Science, London 1900;
Opera in Germany and England, in: The Pall Mall Magazine 1901; Researches
into the Origin of the Organs of the Ancients, in: Intern. Mus. Ges. 1901;
Opera Play-bills from the Manskopf Collection, in: Connaisseur 1902; The
Instruments of the Orchestra and Early Records of the Precursors of the
Violin Family, Ancient and Modern, Bd. I/II, London 1910, ²1969; 125 Artikel
über Musikinstrumente in der Encyclopaedia Britannica, Cambridge 1911; A
Bibliography of Musical Instruments and Archaeology. Intended as a Guide,
London 1912; The Influence of Wind Instruments on the Musical Systems of
the World, in: The Royal College of Music Mag. 1916, Nr. 2 und 3; Beiträge
in AGB; Is European Musical Theory Indepted to the Arabs? London 1925;
The Significance of Musical Instruments in the Evolution of Music, in:
Introductory Volume of The Oxford History of Music, Oxford 1929; als
Herausgeberin: Anderson, O.: The Bowed-Harp, London, 1930; Further notes
on Aristoxenus and Musical Intervals, in: The Classical Quarterly 1933;
Analyses and Reports. The Flute, in: The Bucheum, London 1934; The Greek
Aulos, London 1939, Groningen ²1970; The Harmonia. Creator of the Modal
System of Ancient Greek Music, in: Music Review 1944.
Instrumente: Eine Kithara, Nachbau einer griechischen Vasenmalerei aus
dem 5. Jh.vChr. befindet sich im Besitz der Sektion für Redende und
Musizierende Künste am Goetheanum. Eine „wissenschaftliche‟ Flöte aus
Bakelit („Sensa-Flöte‟) mit den exakten Abmessungen für die Jupiterskala
(e b , f # , g b , gis # , a # , h b , c, d b , e b ) ist Eigentum
der Ita-Wegman-Klinik in Arlesheim/CH.
Literatur: Bindel, E.: Die Zahlengrundlagen der Musik, Stuttgart 1950;
Hiebel, F.: Die Botschaft von Hellas, Bern 1953; Hamilton, E.: Die Skalen
Altgriechenlands, Freiburg/Br. 1957; Lauer, H. E.: Die Entwicklung der Musik
im Wandel der Tonsysteme, Basel ³1976; Pfrogner, H.: Lebendige Tonwelt.
Zum Phänomen Musik, München ²1981; Ruland, H.: Ein Weg zur Erweiterung
des Tonerlebens, Basel 1981; Renold, M.: Von Intervallen, Tonleitern, Tönen
und dem Ton c=128Hz, Dornach 1985; GA 303, 4 1987; Dörfler, W.:
Lebensgefüge der Musik, Bd. III, Dornach 1998; Goebel, U.: Aus: Schriften:
Bd. III: Aufsätze und Berichte über die Arbeit mit den altgriechischen
Tonarten und zur modalischen Eurythmie; Bd. IV: Meine Erinnerungen an die
Arbeit mit den altgriechischen Tonarten; Bd. V: Briefe von Kathleen
Schlesinger und Elsie Hamilton an Rudolf Steiner und andere Ergänzungen
zu Band II & III; Killian, G.: Baumschule Musik. Der Zusammenhang
der Musik vor Pythagoras mit dem Erlebnis der Melodie im einzelnen Ton,
Arlesheim 2003.
Abkürzungen: siehe hier
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