Dr. med., Dr. phil. Müller-Wiedemann, Hans
Arzt, Heilpädagoge.
*11.11.1924, Karlsruhe (Deutschland)
✟12.12.1997, Filderstadt (Deutschland)
Hans Müller-Wiedemann leistete als Arzt und Sozialgestalter in der Camphill-Bewegung wesentliche Beiträge zur Weiterentwicklung der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie.
Er wuchs als Waise auf. Sein Vater starb, als er zwei Jahre alt war, seine Mutter, als er 14 wurde. So lebte er dann bei seinen Großeltern. Sein Großvater war Arzt und wurde ein wichtiges Vorbild für ihn. Nach dem Abitur begann Hans Müller-Wiedemann das Medizinstudium, das er bedingt durch den Krieg unterbrechen musste. Er wurde Sanitäter an der Front in Russland. Mit 21 Jahren trug er schon die volle medizinische Verantwortung für über hundert Schwerverletzte, als der leitende Arzt von Partisanen erschossen wurde. Nach dem Krieg beendete er das Studium in Tübingen, wo er an den Veranstaltungen bedeutender Lehrer teilnehmen konnte, z. B. von Romano Guardini und dem damals jungen Walter Jens. Schon früh zeigte sich sein dichterisches Talent und er wurde Preisträger eines Lyrik-Wettbewerbs für Studenten. Als Assistenzarzt kam er in Kontakt zu den Psychoanalytikern Alexander Mitscherlich und Felix Schottländer sowie den Psychiatern Ernst Kretschmer und Viktor von Weizsäcker.
Die Begegnung mit Heten Wilkens und Johannes Lenz führte zur Anthroposophie und weg von einer wissenschaftlichen Laufbahn. Bei einer Schottlandreise lernte er 28-jährig die Camphill-Gemeinschaft in Aberdeen kennen und entschloss sich, dort als Arzt mitzuarbeiten.
Seit 1953 war Hans Müller-Wiedemann Mitarbeiter der Camphill-Bewegung, zunächst in Schottland, später in Südafrika und in Brachenreuthe am Bodensee. Für den Schritt nach Camphill war ihm die erstaunliche Erfahrung maßgeblich, welch umfassende Weltgeistigkeit und Zeitgenossenschaft in einer solch abgeschiedenen Enklave leben konnte. Das Verhältnis von Innerlichkeit und historischem Bewusstsein und der Aufbau einer Kulturinsel, die aus der Emigration und den Folgen des Weltkriegs ein intensives Innen- und Sozialleben entfaltete, waren für ihn faszinierend und eine persönliche Herausforderung. Besonders die Begegnung mit Karl König, aber auch mit Menschen wie Thomas Weihs brachten entscheidende Einflüsse. Sein heilpädagogisches Wissen und Können erwarb er in der Zusammenarbeit einer Gruppe von jüngeren Ärzten, die sich in den Nachkriegsjahren in Camphill einfanden und mit König und Weihs zusammenarbeiten wollten.
Im Jahr 1959 wurde Müller-Wiedemann - inzwischen mit Frau und Kind - der Aufbau der Camphill-Bewegung in Südafrika übertragen. In den Jahren dort leistete er mit seiner Frau und einer Gruppe von Mitarbeitern intensive Aufbauarbeit in der Heilpädagogik, auch in der Begründung eines heilpädagogischen Seminars. Auch diese Jahre blieben Zeiten des Lernens. Nach der medizinischen Promotion, die er in den Tübinger Jahren abgeschlossen hatte, schloss er in Kapstadt ein zweites Dissertationsprojekt im Fach Psychologie ab. Er befasste sich damals intensiv mit der genetischen Entwicklungspsychologie von Jean Piaget.
Nach dem Tod Königs 1966 kehrte Hans Müller-Wiedemann nach Deutschland zurück und baute dort zunächst (1966-69) die kleine Heimsonderschule Bruckfelden - Adalbert Stifter-Haus - auf, eine Einrichtung, die sich besonders der Therapie und Bildung von Kindern mit Autismus-Syndrom widmete. Ende der 60er-Jahre folgte dann die Übersiedlung nach Brachenreuthe im Bodensee-Gebiet, wo fortan seine Wirkungsstätte blieb. Auch hier lag der Arbeitsschwerpunkt in der Arbeit mit autistischen Kindern. Seine Forschungen führten ihn dazu, das Rätsel des Autismus in einer mangelnden Reifung und Metamorphose der für die Leibeswahrnehmung verantwortlichen unteren Sinne zu sehen und entsprechende Behandlungsmöglichkeiten zu suchen. Die Arbeit in Brachenreuthe bekam durch seine Wirksamkeit im Lauf der Jahre einen hohen Bekanntheitsgrad in Deutschland.
Hans Müller-Wiedemann wurde nicht nur zum fachlichen Mittelpunkt der dortigen Gemeinschaft, die sich in diesen Jahren schnell vergrößerte, er stand auch in der Mitte des sozialen, spirituellen und religiösen Lebens. Seine Vorträge an den Jahresfesten, die Gestaltung der Heiligen Nächte, die jedes Jahr zu einer intensiven Fort- und Weiterbildungsarbeit wurde, vor allem aber auch seine Fähigkeit, andere und jüngere Menschen zu eigenen Leistungen anzuregen und deren Ergebnisse anzuerkennen, ließen eine intensive und reiche Arbeitskultur entstehen.
Müller-Wiedemann gehörte zu den wenigen Mitarbeitern in der anthroposophischen Heilpädagogik, die über die eigenen Grenzen hinaus bekannt wurden. Auch bei den Eltern behinderter Kinder genoss er hohe Achtung durch die liebevolle, aber auch klare Art seiner Beratung.
Kinderkonferenzen und klinische Besprechungen konnten zu tiefgründigen Erfahrungen der Wesenheit eines Kindes werden und zugleich lebendiger Unterricht in der Praxis anthroposophischer Menschenkunde sein.
In den Brachenreuther Jahren entstanden seine wichtigsten Schriften: „Mitte der Kindheit. Eine biographische Phänomenologie der kindlichen Entwicklung‟, einige Jahre darauf die Herausgabe der Sammlung „Der frühkindliche Autismus als Entwicklungsstörung‟ und andere Schriften zur Heilpädagogik. Er war in diesen Jahren auch regelmäßiger Autor der Zeitschrift „Die Drei‟, für die er Aufsätze zum sozialen Leben, zu Fragen der Zeit und eine Reihe von Rezensionen zu wichtigen Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Medizin, Heilpädagogik, Psychologie und Philosophie verfasste.
Hans Müller-Wiedemann unternahm viele internationale Reisen, auf denen er als Vortragender und Berater in der Behandlung von Kindern mit Behinderungen wirkte. Seine Lehrtätigkeit im Camphill-Seminar für Heilpädagogik am Bodensee bedeutete für viele Jahrgänge von Studierenden eine konsequente Stärkung ihrer Berufsmotivation und der Entwicklung ihrer Berufskompetenz.
Zusammen mit seiner Frau Susanne, Georg und Erika von Arnim, Reinhard Böhm, Manfred Mentzel, Ernst-Dieter Berthold und anderen Mitarbeitern führte er eine intensive Studien- und Fortbildungsarbeit zu den Fragen der Sozialgestaltung in heilpädagogischen Gemeinschaften durch, die auch zu einer intensiven Zusammenarbeit mit Wilhelm-Ernst Barkhoff führte. Daraus entstand „Camphill am Bodensee‟, ein Organismus heilpädagogischer Einrichtungen, der sich in seiner Zusammenarbeit an der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus orientierte. Es gelang damals, einen großen Menschenkreis in die Gestaltung der Verantwortungsprozesse einzubeziehen und gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Die Arbeit an der sozialen Dreigliederung strahlte in die europäische Region der Camphill-Bewegung aus und führte zu neuen Strukturen der Zusammenarbeit, etwa den drei „Räten‟ für die Bereiche des sozialen Lebens.
Das Erscheinen seines Gedichtbandes „Nahe dem Engel‟ ließ für viele Menschen neben dem Arzt und Sozialgestalter Hans Müller-Wiedemann eine andere Seite seines Wirkens und seiner Auseinandersetzung mit dem Leben sichtbar werden. In dieser Zeit traten jedoch schon häufiger Krankheitssituationen auf, die schließlich zu drei schweren Herzoperationen in den folgenden Jahren führten.
Ein Symposium zu Ehren seines 70. Geburtstags im November 1994 brachte eine Reihe von Persönlichkeiten in Brachenreuthe zusammen, die als Wissenschaftler und akademische Lehrer mit ihm jahrelang in Arbeitskontakten gestanden hatten.
In diesen Jahren, die auch die Auseinandersetzung mit innerer Einsamkeit, mit der Veränderung seiner Aufgaben und Rollen im Berufs- und Gemeinschaftsleben brachten, schrieb Müller-Wiedemann an seiner großen Biografie Karl Königs, die 1992 erschien. Schwere Depressionen blieben dem erfahrenen Arzt und Begleiter kranker und behinderter Menschen nicht erspart. Seine letzte Lebenszeit verbrachte er im Nikolaus-Cusanus-Haus in Stuttgart, in das er 1996 übersiedelte.
01.01.1961 - 31.12.1961: Camphill in Südafrika
01.01.1966 - 31.12.1966: Einweihung der Heimschule Bruckfelden
01.01.1967 - 31.12.1967: Mongolismus
14.10.1968 - 19.10.1968: Psychiatrische Hochschulwoche Das unbewußte Seelenleben und die Gegenwart
01.01.1970 - 31.12.1970: "Die Drei"
19.10.1970 - 24.10.1970: Psychiatrische Hochschulwoche "Metamorphosen des Seelenlebens"
01.01.1971 - 31.12.1971: "Die Drei"
01.01.1971 - 31.12.1971: Bildungsplanung
01.12.1971 - 02.12.1971: Zusammenkunft anthroposophisch-heilpädagogischer Ausbildungsstätten
01.01.1973 - 31.12.1973: Sprache
23.07.1973 - 29.07.1973: Sommertagung "Das Herz - ein geistiges Organ"
01.01.1974 - 31.12.1974: Genetik
01.01.1974 - 31.12.1974: Tagesmütter
01.01.1974 - 31.12.1974: Medizinische Sektion
01.01.1976 - 31.12.1976: Beiträge zu einer anthroposohischen Psychologie
02.11.1978 - 05.11.1978: Öffentliche Jahrestagung "Die Würde des Menschen"
01.01.1984 - 31.12.1984: Neil Postman
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