Hermann Edler von Brackenburg Baravalle

Prof. Dr. Edler von Brackenburg Baravalle, Hermann

Pädagoge, Mathematiker, Physiker und Astronom; Leiter der Mathematisch-Astronomischen Sektion am Goetheanum.

*27.05.1898, Wien (Österreich-Ungarn)

✟06.07.1973, Wiesneck in Buchenbach bei Freiburg/Br. (Deutschland)

Hermann von Baravalle gehörte zu den Pionieren der Waldorfschulbewegung in Deutschland und in den USA. Im Schulunterricht, in der Lehrerbildung und in öffentlichen Vorträgen sowie in zahlreichen Publikationen wirkte er für eine lebendige Didaktik der Mathematik, Physik und Astronomie. Er war maßgeblicher Berater bei zahlreichen Schulgründungen und dem Aufbau von Oberstufen.

Geboren in eine altösterreichische Hofratsfamilie, verlebte Baravalle als ältester von vier Geschwistern eine behütete Kindheit. Sein Vater, Hermann, entstammte einem alten Adelsgeschlecht und hatte als Ingenieur eine hohe Stellung im österreichischen Verkehrsministerium inne. Baravalle zeigte früh Interesse am Lehrerberuf, war meist Vorzugsschüler. Er legte die Reifeprüfung mit Auszeichnung ab und war bereits 1915/16 außerordentlicher Hörer an der Universität Wien. Im Mai 1916 wurde er in den Kriegsdienst eingezogen und kam in die Reserve-Offiziersschule in Wiener Neustadt. Sein dortiger Instruktionsoffizier war sein späterer Freund und Kollege Walter Johannes Stein. Durch ihn begegnete er der Anthroposophie, die er während seines 21-monatigen Einsatzes bei der Gebirgsartillerie an der italienischen Isonzofront studierte. Während seines ersten Urlaubs hatte er seine erste persönliche Begegnung mit Rudolf Steiner.

Von 1918-20 studierte Baravalle Mathematik und Physik an der Universität Wien und reichte nach kurzem Referendarsdienst an der Staatsrealschule in Wien im Mai 1921 seine Dissertation „Zur Pädagogik von Mathematik und Physik‟ bei den Philosophen Alois Höfler und Robert Reininger ein. Diese Arbeit wurde den Lehrern der Waldorfschule von Steiner verschiedentlich zum gründlichen Studium ans Herz gelegt. In ihr finden sich die Keime, die Baravalle später mit Hingabe und Fantasie in seinem pädagogischen Wirken ausarbeitete und praktizierte.

Während der Eröffnungstagung des ersten Goetheanum hielt der früh gereifte Baravalle, den ein Hauch von Genialität und Würde umgab, drei Vorträge über „Grundprobleme der Physik im Lichte der anthroposophischen Erkenntnis‟. Kurz darauf berief ihn Steiner in das Lehrerkollegium der 1919 gegründeten Waldorfschule in Stuttgart, wo er im September 1920 als Klassenlehrer begann. Baravalle unterrichtete danach Mathematik, Physik, Astronomie und Englisch.

Er wirkte seit 1923 bei den Erziehungstagungen in Stuttgart mit, reiste viel für die Waldorfschule und war bei fast allen pädagogischen Tagungen und anthroposophischen Hochschulwochen in Deutschland, Holland und England aktiv. Immer wieder wies Steiner innerhalb seiner pädagogischen Vorträge auf Baravalles mathematisch-didaktische Errungenschaften hin, die Baravalle später auch schriftlich niederzulegen versuchte. 1924 wurde Baravalle von Steiner autorisierter Goetheanum-Redner.

1925 heiratete Baravalle seine Kollegin, die Engländerin Erica Smith; sie hatten einen Sohn.

Schon früh entwickelte Baravalle einen Bezug zur englischen Sprache, reiste verschiedentlich nach England zu pädagogischen Veranstaltungen und unternahm mit Guenther Wachsmuth und Ehrenfried Pfeiffer 1934 eine groß angelegte Vortragstournee durch die USA.

Nach dem Ausscheiden von Elisabeth Vreede als Leiterin der Mathematisch-Astronomischen Sektion am Goetheanum wurde Baravalle Ostern 1935 die Leitung der Sektion übertragen, die er bis zu seiner Emigration Ende 1937 innehatte und dann provisorisch an Louis Locher abgab. Baravalle übernahm ebenfalls den von Vreede herausgegebenen Sternkalender der Mathematisch-Astronomischen Sektion und betreute ihn ab dem Jahrgang 1936 bis 1941 (mit Beginn des Kalendariums am 1. Januar). Er ließ in fruchtbarer Weise seine eigenen Ideen und Erfahrungen in die Didaktik der Astronomie einfließen. So entwickelte er einen Überblick des Planetenlaufes (insbesondere von Merkur und Venus) während eines Jahres bezüglich der täglichen Mittagsstellung der Sonne. Zugleich wurde der Sternkalender so umgestaltet, dass er einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurde und die vormals bestimmende Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Landwirte in den Hintergrund trat.

1937, nach einem kurzen Aufenthalt in England, emigrierte Baravalle in die USA und unterrichtete zunächst an der Edgewood School in Greenwich, CT, ab 1942 an der High Moving Waldorf School in Wilton, NH, sowie an der Kimberton Farm School in Kimberton, PA. 1943 wurde er Professor für Mathematik und Vorsteher der Abteilung für Mathematik am Adelphi College in Garden City, NY (Long Island). Er publizierte seine Aufsätze in verschiedenen amerikanischen mathematischen und mathematisch-didaktischen Fachzeitschriften. 1946 richtete er eine Waldorflehrerausbildung am Adelphi College ein und gründete 1947 eine „Waldorf Demonstration School of Adelphi‟ (die spätere Waldorf School of Garden City). Er unterrichtete zeitweise an der Yeshiva University in New York.

In einem „sabbatical leave‟ besuchte Baravalle von Februar bis August 1951 fast sämtliche Waldorfschulen Europas. 1954 ließ sich Baravalle am Adelphi College beurlauben, um sich weitgehend dem Wiederaufbau der deutschen Waldorfschulbewegung zu widmen. Als Grund des Urlaubs gab er an: „Ich liebe die Mathematik, aber mehr noch liebe ich die Waldorferziehung.‟

1958 kehrte er in die USA zurück, an die Westküste, und wirkte zunächst an der Highland Hall School in Los Angeles und dann in der Sacramento School. Er war maßgeblich am Aufbau einer Lehrerausbildung in Los Angeles, Detroit und in Sacramento beteiligt. Ab 1962 unternahm Baravalle verschiedene Vortragstourneen durch die USA und sprach an vielen Schulen, Colleges und Universitäten über Pädagogik im Allgemeinen und Didaktik der Geometrie, Arithmetik und Physik im Besonderen. Daneben war er ein gern gesehener Gast bei pädagogischen Veranstaltungen in Europa.

1966 ließ sich Baravalle in North Hollywood in der Nähe von Los Angeles nieder. Nach einem leichten Schlaganfall im Sommer 1969 während einer Europatournee kehrte er kurz nach Kalifornien zurück und übersiedelte im Sommer 1970 endgültig nach Deutschland. Er verlebte die letzten Jahre in Zurückgezogenheit, zunächst in Murrhardt, dann in Wiesneck.

Die fachlich gediegene, exakte, strenge und doch lebendig-fantasievolle Unterrichtsweise von Baravalle war sprichwörtlich. Er war bekannt für seine vollendeten Lebensformen, seine Höflichkeit, die gründliche Vorbereitung auf seine Lehrveranstaltungen sowie für seinen Fleiß bei allem, was er tat. Sein „Markenzeichen‟ war die dynamische Geometrie, eine anschauliche, durch Gestik und „Tanz‟ begleitete Ableitung geometrischer Gesetze anhand der verschiedensten, immer wieder neu gegriffenen Formverwandlungen.

Was immer Baravalle schrieb, es war durchdrungen von seiner pädagogischen Erfahrung und Genialität. Baravalle war in erster Linie Pädagoge und nüchterner Phänomenologe in den naturwissenschaftlichen Bereichen der Mathematik und Physik. Er neigte weder zu Mystizismus noch zu elitärer Wissensvermittlung: Der offene und begeisterungsfähige Mensch stand im Mittelpunkt.

Seine neben den zahlreichen Aktivitäten entstandenen Bücher und Aufsätze sind sorgfältig nach ästhetischen Gesichtspunkten bearbeitet, frei von unnötiger Theorie, mit fachlicher Originalität und pädagogisch-didaktischer Fantasie gestaltet.

Sein geometrisches Hauptwerk ist „Geometrie als Sprache der Formen‟. Hier zieht Baravalle die Summe seiner geometrischen Exkursionen und beschenkt die Leser und insbesondere die Liebhaber von geometrischem Anschauungsmaterial mit einem knapp kommentierten Füllhorn von eigenhändig hergestellten, wohl durchdachten Formvariationen und -verwandlungen.

Renatus Ziegler

Quellen Erwähnungen

N 1924 S. 80, 84, 124
N 1925 S. 44, 116, 164, 174, 179
N 1926 S. 74, 90, 106, 118, 194
N 1927 S. 44, 76, 143, 147, 184, 188
N 1928 S. 20, 24, 28, 47
N 1929 S. 36, 44, 56, 59, 66, 72, 75, 78, 80, 92, 104, 107f, 114, 144, 188, 208
N 1930 S.32, 51, 56,1 68, 82, 106, 172, 180
N 1931 S. 28, 40, 92, 96, 111f, 132, 145, 151, 156, 167f, 179, 190
N 1932 S. 3, 42, 46, 88, 156ff, 160, 162, 168, 182, 184, 188
N 1933 S. 3, 32, 35f, 52, 71, 84, 108, 112, 168, 185, 204
N 1934 S. 12, 16, 23, 26, 32, 44, 59, 62-69, 72, 144, 147
N 1935 S. 6f, 11, 13ff, 34, 67, 72, 74, 82, 130, 161, 165, 185
N 1936 S. 72, 92, 96, 100, 116, 120, 130f, 196
N 1937 S. 107, 115, 124, 128, 136, 179, 183
N 1938 S. 51
N 1939 S. 116
N 1940 S. 66, 166, 176
N 1941 S. 88, 178
N 1946 S. 22, 151f, 203
N 1948 S. 4, 108, 116, 120
N 1949 S. 11, 100
N 1951 S. 3, 91
N 1956 S. 71, 73, 77, 140
N 1964 S. 246
N 1965 S. 42
N 1967 S. 40, 105, 122, 169
N 1968 S. 42, 97f
MaD 1955 Nr. 32, S. 92
G 1973 Nr. 28 Todesanzeige
EK 1968, Nr. 6 Ernst Weißert Zum 70 Geburtstag
MaD 2003 Nr. 224 S. 127ff
NAA 1961 Nr. 90, S. 6
NAA 1974 Nr. 2, S. 23
NAA 1978-79 Nr. Winter, S. 21
NAA 1989 Nr. Michaelmas, S. 22f
Sam, M.M.: Eurythmie, Dornach 2014, S. 164, 296

Info

Brüder Albert und Fritz, Schwester Ilse. Fachlehrer der ersten Waldorfschule.
Vortragender, Kursleiter auch in den USA. Lehrer in der Highland School im
Westen der USA. Gab 1963 den Impuls zur Gründung der East Bay
Waldorfschule in Eneryville CA, die schliesslich 1980 zustandekam.
Werke: Zur Pädagogik der Physik und Mathematik, Stuttgart 1921, ³1964;
Grundprobleme der Physik im Lichte anthroposophischer Erkenntnis, in:
Enigmatisches aus Kunst und Wissenschaft, Stuttgart 1922; Der
Sternenhimmel über und unter uns, Stuttgart 1930, dann mit neuem Titel:
Die Erscheinungen am Sternenhimmel, Dresden 21937, Stuttgart 41962; Die
Geometrie des Pentagramms und der Goldene Schnitt, Stuttgart 1932, 4
1985; Zahlen für jedermann, Stuttgart 1932, 6 Auflagen; Physik als reine
Phänomenologie, Bd. I: Dresden 1938, Stuttgart ³1992, II: Dresden 1940,
³1996, III: Bern 1951, Stuttgart ²1996; The Teaching of Arithmetic and the
Waldorf School Plan, Garden City 1950, Sacramento 41991; Perspektive,
Bern 1952; Rudolf Steiner als Erzieher, Stuttgart 1952; Geometrie als
Sprache der Formen, Freiburg/Br. 1957, Stuttgart ³1980; Darstellende
Geometrie nach dynamischer Methode, Freiburg/Br. 1959, Stuttgart ²1982;
The Waldorf Approach to Arithmetic, Chestnut Ridge 1996; Waldorf-
Education for America, 1998; zahlreiche Beiträge in G, N, Msch, EK, weitere
in Med, MaB, AGB, A, DD, Sv, F, PQ, RSS, ZP, Ber, D, St, Mat, The
Mathematics Teacher, Scripta mathematica.
Nachlass: David Booth, Austin Waldorf School, 8702 South View Rd.,
Austin, TX 78737, USA; Archiv der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung,
Dornach.
Literatur: Steiner, R.: Meine holländische und englische Reise, in:
G 1921/22, Nr. 39; Hiebel, F.: Im Gedenken an Hermann von Baravalle, in:
N 1973, Nr. 30; Weißert, E.: Hermann von Baravalle, in: MaD 1973, Nr. 106;
O’Neil, G.: Hermann von Baravalle, in: NAA 1973, Nr. 3; Booth, D.:
Biographical Notes. Bibliography, in: Baravalle, H. v.: The Waldorf Approach
to Arithmetic, Chestnut Ridge 1996; Ziegler, R.: Biographien und
Bibliographien, Dornach 2001.
Abkürzungen: siehe hier
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