Annelise Kretschmer

Kretschmer, Annelise

Fotografin.

*11.02.1903, Dortmund (Deutschland)

✟13.08.1987, Dortmund (Deutschland)

Annelise Kretschmer ist eine bedeutende Porträtfotografin. Sie spielte eine stille, aber wichtige Rolle im Kulturleben ihrer Stadt. Als Anthroposophin wirkte sie zwar nicht öffentlich, aber durch Menschlichkeit und Tatkraft helfend und fördernd für einen großen Umkreis von Menschen.

„Vor dem Ersten Weltkrieg herrschte eine sozusagen bürgerliche Fotografie: Der erfolgreiche Bürger ließ sich in derselben Pose fotografieren, in der sich der Adelige malen ließ. [...] Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich das radikal, und zwar in verschiedenen Strömungen des Sehens. Da gibt es das ,neue Sehen’, das von einem neuen, spontanen Blick auf die Dinge und Menschen ausging: Draufsichten, Diagonalen, Ausschnitte und ,Verrätselungen’, Strukturen oder Rhythmen wurden gesehen und fotografiert: von den einen spontan, von Gefühl begleitet [...], so, dass Auge und Kamera auf das Gesehene reagieren, wie bei Annelise Kretschmer - die anderen gingen von der Bewegung, dem experimentellen Blick aus, machten sich eine Theorie über das ‚neue Sehen’, wie László Moholy-Nagy.‟ (Ferdinand Brüggemann, 4.11.2001, Ausstellungseröffnung „Deutsche Fotografie von August Sander bis Otto Steinert‟, Köln, unveröffentlichte Mitschrift des Autors)

Annelise Silberbach wuchs in einem unkonventionellen, großzügigen Kaufmannshaus mit einer fantasiebegabten, an allem Geistigen tätig interessierten Mutter und einem von Sammlerleidenschaft auf allen Gebieten der Kunst begeisterten jüdischen Vater auf. Ihr Modegeschäft war eine kulturelle Instanz für die Stadt und beide führten ein geistig und künstlerisch offenes Haus.

Nach Schule in Dortmund, im Pensionat im klassischen Weimar (1919/20) und Besuch der Kunstgewerbeschule in München (1920-22) hat Annelise Kretschmer als behütete „höhere Tochter‟ das Bedürfnis, einen damals modernen „technischen Beruf‟ zu ergreifen, ohne vorher je einen Fotoapparat in der Hand gehabt zu haben. Sie wird ausgebildet bei Franz Fiedler in Dresden, der „zweiten Säule der Fotografie‟ neben Hugo Erfurth. Schon 1926 wird sie aufgefordert, der „Gesellschaft deutscher Lichtbildner‟ (GdL) beizutreten, wird früh bekannt, aber schon 1933 aus rassischen Gründen wieder ausgeschlossen.

1928 heiratet sie in Dresden den Bildhauer Sigmund Kretschmer - Schüler von Otto Mueller und Ernst Albiker -, von dem sie künstlerisch angeregt wird. Sie gründet 1928 in Dortmund ein Fotoatelier, das sie 50 Jahre lang bis 1978 führt. Mit ihrer Kunst muss sie ihren Mann und vier Kinder ernähren. Als Halbjüdin hat sie die Anfeindungen der Nazis zu ertragen, Ausbombung und Evakuierung. Ihr Mann stirbt bereits 1953. In ihrer langen Berufszeit fotografiert sie - was wohl einzigartig ist - manche Industriellenfamilien des Ruhrgebietes durch drei Generationen hindurch. Sie schreibt: „Fazit meiner Arbeit in der fotografischen Kunst ist: Mich hat nicht die technische Seite der Fotografie interessiert, die natürlich beherrscht werden musste, sondern der Prozess, die starre Optik des Apparats zu verlebendigen, das, was das phantasiebegabte Auge als Erlebnis hat, heraufgesteigert, nun [...] durch die Apparatur, zum Kunstwerk umgewandelt, wiederzugeben. Hinzu kam das wahre Interesse und die Liebe zum Menschen und zur Welt.‟ (Interview Annelise Kretschmer, in: Annelise Kretschmer, Fotografin, Katalog des Folkwang Museums Essen 1982)

In Berührung mit der Anthroposophie kommt sie durch ihre Mutter, eine intensive Berschäftigung beginnt während der Zeit der Evakuierung im Schwarzwald, in der Nähe von Wiesneck, der von ?Friedrich Husemann geschaffenen therapeutisch-psychiatrischen Kulturstätte, angeregt durch die Anthroposophin Gisela von Ruckteschell.

Nach dem Kriege muss sie unter schwierigsten Bedingungen das Atelier in Dortmund wieder aufbauen. In der Zeit von 1950 bis 1978 nimmt sie regelmäßig an der anthroposophischen Arbeit teil: Sie sagt wenig, aber durch das, was sie sagt und lebt, ist sie in Dortmund eine moralische Instanz. Ihre Telefonnummer ist gleichzeitig die der Anthroposophischen Gesellschaft und sie ist - 25 Jahre lang - Anlaufstelle für alle Menschen, die Fragen und Interesse an Anthroposophie haben. Sie gibt nicht nur Auskunft, sondern auch zahlreichen Menschen Lebenshilfe.

Befragt, ob die Anthroposophie ihre fotografische Arbeit beeinflusse, antwortet sie: „Ja - aber nicht in der Weise, dass ich die Erkenntnisse beim Fotografieren direkt angewandt hätte, sondern indirekt dadurch, dass ich ein lebendiger Mensch geworden bin. Es hat mein Verständnis für andere Menschen erweitert, was meine Arbeit als Porträtfotografin gefördert hat.‟ (Ebd.)

Es gibt von ihr - nicht oder nur verstreut veröffentlicht - viele Porträtaufnahmen bekannter Anthroposophen, denen sie begegnet, darunter von ?Albert Steffen, ?Rudolf Grosse, ?Ludwig Graf Polzer-Hoditz, Friedrich Husemann, ?Rudolf Treichler, ?Rudolf Frieling, ?Friedrich Doldinger, ?Margarita Woloschin, Alois Künstler, Eve und ?Raoul Ratnowsky, Helene Reisinger und ?Else Klink, mit der sie befreundet war.

Durch ihre Freundschaft mit der Direktorin des Dortmunder „Museums am Ostwall‟, Leonie Reygers, lebt sie intensiv das Kunstleben ihrer Zeit und ihrer Stadt mit. Es entstehen viele Porträts namhafter Künstler und Kunstförderer wie Walter Dexel, Günter Fruhtrunk, Albert Gleizes, Daniel-Henry Kahnweiler, ?Hugo Kükelhaus, Rubin Lipchitz, Serge Poliakoff, Albert Renger-Patzsch, Rudolf Schoofs, Fritz Wotruba, Ossip Zadkine - um nur einige zu nennen.

1982 - fünf Jahre vor ihrem Tode - wurde sie durch eine Retrospektive im Essener Folkwang-Museum geehrt.

Ein geradezu leidenschaftliches, durch Anthroposophie vertieftes Interesse für den Menschen verbindet bei ihr Beruf und Leben: „Mein Beruf wurde eine selbstverständliche Hingabe an die Arbeit, ebenso als Handwerk, ebenso als künstlerische Äußerung und als immer neue Quelle menschlicher Beziehungen und dadurch menschlichen Reichtums.‟ (Juni 1982)

Joachim von Königslöw
Literatur: werkstattportrait 4, die Lichtbildnerin Annelise Kretschmer, Dortmund 1962; Eskildsen, U.: Annelise Kretschmer, Fotografin (Ausstellung im Folkwang-Museum Essen), Essen 1982; Ruelfs, E.: Annelise Kretschmer. Fotografien 1927-1937, Göttingen 2003.
Abkürzungen: siehe hier
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