Anna Minzlova

Minzlova, Anna Rudolfovna

Okkultistin.

*01.01.1860,

✟01.01.1910,

(Geburtstag und -monat unbekannt, Todestag und -monat unbekannt)

Die russische Theosophin, Tochter eines bekannten Petersburger Rechtsanwalts, zählte im zaristischen Russland vor 1910 zu den in einem ambivalenten Sinne faszinierenden und mysteriösen Persönlichkeiten, um die sich Intellektuelle und Künstler, Dichter und Schriftsteller mit spirituellen bzw. okkultistischen Interessen scharten. Zustatten kamen ihr bemerkenswerte hellseherische und mediumistische Fähigkeiten. Diese und ihre körperliche Erscheinung erinnerten ihre Zeitgenossen vielfach an H. P. Blavatskaja. Der Philosoph Nikolai A. Berdjajew (1874-1948), der sie in Petersburg bei dem Dichter W. Iwanow kennen lernte und in seiner autobiografischen „Selbsterkenntnis‟ (deutsch 1953) porträtierte, urteilt: „Die Minzlova war eine kluge Person, auf ihre Weise begabt; sie verfügte über die große Kunst, den Seelen zu nahen. Sie wusste vortrefflich, wie man mit jedem Einzelnen zu sprechen hat. Ich empfand den Einfluss der Minzlova als absolut negativ, ja sogar dämonisch [...]. Solche Persönlichkeiten wie die Minzlova konnten nur in der Atmosphäre der kulturellen Elite jener Zeit, die von okkulten Stimmungen und Bestrebungen durchdrungen war, Einfluss gewinnen. In dieser Atmosphäre war viel unbewusste Verlogenheit und Selbstbetrug, aber wenig Liebe zur Wahrheit [...].‟ (S. 212 ff)

Sie gab sich als spirituell Wissende und als Abgesandte eines rosenkreuzerischen Ordens aus. Ihre Mission erblickte sie in der Begründung eines geistigen Zentrums, von dem aus sie ihre Heimat erneuern wollte. In St. Petersburg und Moskau schloss sie sich den symbolistischen Dichtern und Publizisten an, unter ihnen Andrej Belyj, der sie in seinen biografischen Schriften mehrfach bespricht und sie „unsere Inspiratrice‟ nannte. Leo Kobylinskij-Ellis, Emil Medtner, Alexander Blok, Vjatscheslav Ivanov und viele andere gehörten zu den Zirkeln, die sie um sich scharte.

Als Mitglied der russischen Theosophischen Gesellschaft spielte sie somit in russischen Intellektuellenkreisen seit etwa 1904 eine wichtige Rolle. Dies spiegeln die zahlreichen autobiografischen Berichte z. B. bei Belyj, Assja Turgenieff, N. Berdjajew, Margarita Woloschin u. a. wider. Wer sie näher kannte, weist auf die Unstetheit der nach dem Tode ihres Vaters ohne festen Wohnort Reisenden hin, insbesondere auf ihre chaotischen Wesenszüge, weil es ihr offensichtlich nicht gelang, innen Geschautes und übersinnlich Wahrgenommenes in die Wirklichkeit zu integrieren.

Frühzeitig wurde sie auf Rudolf Steiner aufmerksam. 1904 und 1905 reiste sie nach Berlin, wo sie sich der dortigen Theosophischen Gesellschaft anschloss und zeitweilig eine esoterische Schülerin Steiners wurde. Das ist insbesondere durch einen Briefwechsel mit ihm aus den Jahren 1906-08 (GA 264) belegt. Von ihm empfing sie spezielle Übungsanweisungen auf dem anthroposophischen Erkenntnisweg. Weitere Empfehlungen und Ratschläge bezogen sich auf die noch zu leistende Aufbauarbeit in der theosophischen Bewegung Russlands.

Minzlova verbreitete das anthroposophische Gedankengut in ihrem Umkreis. Deshalb suchte sie Steiner zu einer Vortragsreise nach Russland zu überreden. Dazu kam es nicht (Brief vom 16. November 1908, GA 264). Zu ihren weiteren Aktivitäten gehörte die Übersetzung einiger Schriften Steiners, vor allem die seiner „Theosophie‟ (Petersburg 1910). Doch ihre Beziehung zu Steiner kühlte offensichtlich in ähnlicher Weise ab, wie das u. a. auch bei dem ihr nahe stehenden Leo Kobylinskij-Ellis der Fall war. Auf mysteriöse Weise verschwand sie 1910. Auch Berdjajew hat über das Ende der Minzlova nur nicht verifizierbare Mutmaßungen zu bieten.

Gerhard Wehr

Info

War Mitglied des Besant-Zweiges der TG vor 1910
Literatur: Berdjajew, N.: Selbsterkenntnis. Versuch einer philosophischen Autobiografie, Darmstadt 1953; Woloschin, M.: Die grüne Schlange. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1954; Turgenieff, A.: Erinnerungen an Rudolf Steiner, Stuttgart 1972; Belyj, A.: Im Zeichen der Morgenröte. Erinnerungen an Aleksandr Blok, Basel 1974; ders.: Verwandeln des Lebens. Erinnerungen an Rudolf Steiner, Basel 1975; ders.: Ich, ein Symbolist, Frankfurt/M. 1987; Fedjuschin, V. B.: Rußlands Sehnsucht nach Spiritualität, Schaffhausen 1988; Carlson, M.: Ivanov, Belyj, Minclova, in: Culturà e memoria, Firenze 1988.
Abkürzungen: siehe hier
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