Mortensson-Egnund, Ivar Julius
Dichter, Volkskundler, Pfarrer.
*24.07.1857, Alvdal/Lille Elvedal/Österdalen (Norwegen)
✟16.02.1934, Alvdal/Österdalen (Norwegen)
Ivar Mortensson-Egnund, einer der farbigsten Geister im norwegischen Kulturleben seiner Zeit, war ein Mann des Wortes - und gehörte zu den ersten Anthroposophen des Landes.
Nach dem Umzug der Familie aus dem Gebirge Østerdalens in die Stadt stieß Ivar als 11-jähriger Bauernjunge, der bis dahin zu Hause Privatunterricht erhalten und nie eine Schule besucht hatte, mit seinem ländlichen Dialekt bei den Mitschülern zunächst auf Befremdung. Ein paar Jahre später wurde sein Klassenkamerad Moltke Moe, der Sohn des Märchensammlers Jørgen Moe, sein bester Freund. Beide träumten von einem volkserweckenden Dichtertum und begeisterten sich für Volkslieder, Sagen und Märchen, die durch die Sammlungen Peter Christen Asbjørnsens, Jørgen Moes und Magnus Brostrup Landstads vor dem Vergessen bewahrt wurden. Mortensson eröffnete sich eine neue Welt: das Traumlied Olaf Åstesons, die Kalevala. In den Ferien wanderte er in den Bergen der Telemark, eine an Volkskultur und -mythologie reiche Landschaft, und sammelte Volkslieder, die er später mit Moltke Moe zusammen herausgab.
Seine Liebe zur nordischen Volksdichtung wandelte sich bald in kompromisslosen Kampf für die „Landsmålsache‟ - eine nationalistische Bewegung für das Neunorwegische: eine Schriftsprache, die den norwegischen Mundarten näher war als die herrschende Reichssprache. Er lernte Arne Garborg, den Herausgeber der bäuerlich-oppositionellen Zeitschrift „Fedraheimen‟ („Das Väterheim‟), kennen und arbeitete bei ihm als Redakteur für die neunorwegische Bewegung. Mortenssons Idee vom Christentum als Freiheitskampf ließ ihn - gegenüber dem Unionspartner Schweden - ein selbstständiges norwegisches Geistesleben sowie Freiheit und Selbstverwaltung in Staat und Kirche befürworten. Die bald darauf einsetzende reaktionäre Welle in Norwegen - Beschlagnahmung von Büchern, Ablehnung von staatlichem Gehalt für den Dichter Alexander Kielland u.a.m. - zog eine Radikalisierung einiger Intellektueller, darunter Mortenssons Freund Arne Garborg, nach sich. Bald erklärten sich beide zu Anarchisten. Nachdem der russische Fürst Peter A. Kropotkin in „Nyt Tidsskrift‟ seine anarchistischen Ideen zum ersten Mal in Norwegen öffentlich dargestellt hatte, wurde „Fedraheimen‟ mit Mortensson als Chefredakteur zum Sprachrohr kommunistischer Ideale wie Dezentralisierung und gemeinschaftlichem Besitz von Boden und Produktionsmitteln. Seit 1891 nannte das Blatt sich „Anarchistisch-kommunistisches Organ‟. Im Zentrum der Idee stand keine dogmatische Staatsdoktrin, sondern das Vertrauen in die Menschen, die aus individueller Freiheit zu gemeinsamen Beschlüssen und selbst gewählten Arbeitszusammenhängen gelangen können. Die Radikalität dieser neuen Botschaft veranlasste die Redaktion des „Fedraheimen‟, von der Hauptstadt nach Østerdalen zu ziehen, wo sich bald um Mortensson, Garborg und Rasmus Steinsvik ein anarchistischer Kreis bildete.
1890 verlagerte Mortensson sein Engagement auf das gesprochene Wort: Als Theologe, „der Reichskapellan‟ genannt, wanderte er durch das Land, hielt in zwei Jahren fast 200 Vorträge und predigte in den Kirchen Anarchismus. Auch wenn die Pfarrer ihre Gemeinden von der Kanzel herab vor falschen Propheten warnten, wenn der „Reichskapellan‟ kam, erfreute sich der humorvolle Redner großer Beliebtheit.
Neben der Vortragsarbeit übersetzte Mortensson einige anarchistische Schriften, besonders von Peter Kropotkin, der ihn den nördlichsten Anarchisten der Welt nannte. Gegen Ende des Jahrhunderts war er Autor und Herausgeber von „Fridom. Tidsskrift for sjølvhjelp og sjølvstyre‟ („Freiheit: Zeitschrift für Selbsthilfe und Selbstregierung‟) und veröffentlichte sein Buch „Fridomsvegen. Soga om kongane, folkemagten og sjølvstyre‟ („Der Freiheitsweg‟), ein humoristisch-anarchistisches Märchen. In seiner soziologischen Schrift „Bondeskipnad i Norig i eldre tid‟ („Einrichtung der Bauerngemeinschaft Norwegens in älterer Zeit‟) versucht Mortensson nachzuweisen, dass der Boden Norwegens ursprünglich Gemeinbesitz war. „Ein fri-kar. Forteljing.‟ („Ein freier Kerl‟) ist sein letztes Werk, das Anarchie als Gesellschaftsmodell formuliert.
Auch wenn er noch 1932, 75-jährig, Kropotkin zu den Männern, die er am höchsten schätzt, zählt, entwickelte sich in ihm die Freiheitsfrage immer mehr vom politischen Anliegen zum innerlich-mystischen Weg. Ein stiller, tiefer Ton seiner Dichtung, in dem seine frühe Liebe zum Volkslied mitklingt, blieb ihm auch mitten im Kampf um die Sache der Sprache und des Volkes eigen. Seine Prosa-Lyrik in „Or Duldo. Draumkvæe‟ („Aus dem Verborgenen‟. Traumlieder) spricht ebenso wie „Runir‟ („Runen‟) von der Suche der menschlichen Seele nach Erhöhung, Weisheit und Brüderlichkeit.
Die Begegnung mit der Anthroposophie erlebte Mortensson wie ein Wiedererkennen. Er gehörte zu den ersten, die sich der anthroposophischen Bewegung in Norwegen anschlossen, schon 1907 wurde in der theosophischen Loge Kristianiagruppen mit dem Studium der Anthroposophie begonnen. Nahe Freunde wie Einar Lunde in Lillehammer und Marta Steinsvik, die Frau Rasmus Steinviks, gesellten sich dazu. Nach der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1912/13 wurde Mortensson Mitglied und trat in den Kristiania-Zweig Vidargruppen ein. Er publizierte in „Vidar‟, der ersten Zeitschrift für Anthroposophie nach Gründung der Gesellschaft, unter anderem seine poetische Fassung des „Traumlieds‟ Olaf Åstesons. Seine schriftstellerische Tätigkeit umfasste u. a. fünf Dramen im Stil von Mysterienspielen altnordischer Mythologie.
Als sein bedeutendstes Werk gilt die Neu-Dichtung der „Edda‟, deren Vertonung für Solostimmen, Chor und Orchester durch David Monrad Johansen bei der Uraufführung 1927 in Oslo großes Aufsehen erregte.
Mit 52 Jahren ließ sich der Anarchist, Dichter und Mystiker Ivar Mortensson zum Pfarrer weihen - ein konsequenter Schritt, denn Anarchie und Religion, Wahrheits- und Freiheitsstreben führte er direkt auf Christus und seine Jünger zurück. Zehn Jahre wirkte er noch als Pfarrer und verband in seinen Predigten traditionelle religiöse Verwurzelung mit anthroposophischen Gedankeninhalten. Mit 70 ersuchte er um Aufnahme in die I. Klasse der Freien Hochschule, um auch im Alter noch „mehr zu lernen‟. Im 77. Lebensjahr starb er in seiner Dichterstube. An der Tür hing ein Zettel mit der Botschaft, dass er gleich zurückkomme.
Forschungsstelle Kulturimpuls Biografien Dokumentation kulturimpuls.org