Helga Kranz-Luschin

Kranz-Luschin, Helga

geb.: Luschin

Hausfrau.

*31.01.1909, Pola (damals Österreich-Ungarn)

✟24.01.1976, Graz (Österreich)

Helga Kranz war jahrzehntelang eine wichtige Organisatorin des anthroposophischen Lebens von Graz, eine Frau mit einem ungewöhnlich gut ausgeprägten Ichsinn.

Aus dem Südportal des Goetheanum strömten nach einer großen Veranstaltung viele Menschen, unter ihnen auch derjenige, der mit Helga Kranz verabredet war, der nun suchend seine Blicke herumschweifen ließ und sie lange, lange in der Menge nicht fand. „Er sieht mich nicht,‟ sagte sie etwas irritiert und fragte, „ist denn sein Ichsinn nicht in Ordnung?‟ Für mich war dies eine der vielen einführenden Lektionen in eine praktisch gelebte Anthroposophie, die ich in meiner Studentenzeit von ihr bekam, hier darauf zu achten, wie die einzelnen Menschen in ihren zwölf Sinnen konfiguriert sind. Sind sie kurz- oder weitsichtig, wie nehmen sie - auch sehr wichtig - Wärme wahr, das sollte man wissen, meinte sie. Dann kann man sie nehmen, wie sie sind und braucht sich nicht zu ärgern, weil sie nicht so sind, wie man sie gerne hätte. Seither, wenn ich zwischen vielen Menschen stehe, z.B. in einem Flughafen, um jemanden abzuholen, weiß ich in der Regel, ob es jemand ist, der meinen Blick sofort in dem Moment finden wird, in dem er aus dem Zollbereich heraustritt, oder einer, bei dem ich richtige Maßnahmen ergreifen muss, dass wir uns nicht verpassen - und richte mich mit Spaß darauf ein.

Wenn man ungeduldig ist mit anderen Menschen, wenn man sich ärgert, insbesondere über andere, aber natürlich sollte man das auch bei einer verpassten Straßenbahn und dergleichen nicht tun, dann ist man auf dem anthroposophischen Weg nicht sehr weit fortgeschritten, lehrte sie - und lebte sie. Durch diese Haltung zusammen mit dem bei ihr sehr deutlich ausgeprägten Ichsinn brachte sie es zu einer bemerkenswerten Offenheit für ganz unterschiedliche Menschen und der Fähigkeit, sie zu fruchtbaren Aktivitäten zusammenzuführen.

Sie hatte in Graz auf dem Rosenberg oberhalb der Stadt ein schönes, warmes Holzhaus. Hier gab es eine von einer fülligen Glyzinie umrankte Terrasse oberhalb eines Obstgartens, auf der viele engagierte Gespräche geführt wurden. Vor allem aber hatte dieses Haus, in dem sie mit ihren drei zu der Zeit schon ins Erwachsenenalter reichenden Kindern lebte, viele Zimmer. Zwei bis drei von ihnen konnte sie noch vermieten. Als Mieter suchte sie sich junge Leute, oft, aber nicht nur, Studenten. Manchmal wurden ihr diese, wie ich damals im Sommer 1954, von der Universität zugeschickt. Darüber hinaus hatte sie immer auch noch ein Zimmer frei für Redner, die sie aus aller Welt und aus allen „Lagern‟ - in den 50er und 60er-Jahren überhaupt kein unproblematisches Kapitel - zu anthroposophischen Vorträgen nach Graz einlud. Ihre gute Beziehung zur Technischen Hochschule, der „Technik‟, verschaffte ihr die nötige Unabhängigkeit für die Auswahl der Redner. So konnte man allein in dem Jahr, in dem ich bei ihr wohnte, so unterschiedliche Redner kennen lernen wie Fred Poeppig von den „Kommenden‟, Jan van Goudoever aus Holland, Hermann von Baravalle aus Amerika, Paul Regenstreif, der auf seinem großen, glitzernden Motorrad (von Helga Kranz „Weihnachtsbaum‟ genannt) aus Kärnten über die Pack dahergeritten kam, und Wilhelm Rath vom Gut Farrach. Daneben pflegte Helga Kranz die Beziehung zu den Steffen-treuen Grazer Zweigleitern, dem bekannten Geiger Karl von Baltz, der 1956 als Leiter der Sektion für redende und musizierende Künste nach Dornach berufen wurde, und zu Kurt Franz David, der als Sekretär des Vorstandes später ebenfalls am Goetheanum tätig wurde. Auch mit Steffen selbst hatte sie eine Zeit lang in Korrespondenz gestanden. Die jungen Leute in ihrem Haus halfen ihr, die anthroposophischen Redner von der Bahn abzuholen, ihnen die Bücher und sonstiges Material in den Vortragsraum zu tragen, oder ihnen etwas zu essen zu geben - und hatten oft durch solch enge Kontakte zu den interessanten Rednern selbst großen Gewinn aus diesen Begegnungen. So voller Leben war ihr Haus, dass es richtig summte. Und besonders summte es, wenn die jungen Leute, die sie fand und die zu ihr fanden, bei ihr eine Einführung in die Anthroposophie (morgens früh um sieben Uhr z.B.), vielleicht auch noch bei den von ihr im Zweig eingeübten Weihnachtsspielen - sie leitete die Spielgruppe etwa 20 Jahre lang - oder mit ihr zusammen im Sprachgestaltungskurs von Frau Hildemaria Palgen-Pritz mitmachten.

Keineswegs umfasste der Kreis, in dem Helga Kranz Anthroposophie pflegte, nur ihr Haus und die Stadt Graz. In Österreich war sie noch an verschiedenen anderen Orten tätig. Und einmal im Jahr besuchte sie alle ihr bekannten Anthroposophen im von Tito geprägten Jugoslawien bis weit in den Süden dieses Landes hinein, auch noch die in Niš und Skopje (übrigens damals trotz Sozialismus wunderbar farbige und warme Städte). Häufiger besuchte sie Zagreb (von ihr meist Agram genannt) und Maribor (Marburg an der Drau), von Graz aus relativ schnell erreichbare Orte. Dies waren damals zwar mögliche, aber doch auch nicht völlig ungefährliche Unternehmungen. Meines Wissens waren es außer ihr ganz wenige, die sich damals für die anthroposophische Arbeit im kommunistischen Osten interessierten und einsetzten.

Initiativ, energisch mit Durchsetzungsvermögen. Aber wie Georg Kühlewind sie kürzlich mir gegenüber einmal charakterisierte: „Ungemein aktiv und gleichzeitig eine ganz, ganz liebe Frau‟. Übrigens auch klug, doch wurde sie vor allem - was ja bekannterweise nicht unbedingt zusammengeht - als außerordentlich liebevoll erlebt, wohl wegen ihrer Art, in der sie Menschen begegnete.

So liebevoll Helga Kranz Menschen begegnete, so wach nahm sie sie auch wahr, oft sogar mit prophetischem Blick. Da kam ihr z.B. 1965 ein in der damaligen DDR erschienener Aufsatz von einem Dr. Georg über Bewusstseinsstufen in die Hände. Sie fand heraus, dass sich hinter Dr. Georg ein Prof. Dr. György Székely verbarg und machte sich auf die Reise, um ihn in Budapest zu besuchen. Alsbald wurde er, natürlich, nach Graz in die „Technik‟ eingeladen. Da waren nach wie vor ihre jungen Leute, die ihn betreuten und natürlich seine Vorträge besuchten. Am Telefon erzählte mir Helga Kranz die nette Geschichte, wie diese eines Tages ganz irritiert zu ihr kamen, als einige Aufsätze von einem Dr. Kühlewind erschienen waren, ganz offensichtlich einem Plagiator des von ihnen so geschätzten Dr. Georg. Ja Kühlewind, unter welchem Namen György Székely schließlich allgemein bekannt wurde, diesen Namen müsse ich mir ganz unbedingt merken. Vorher irgendwann hatte sie mir den Namen Andreas Suchantke eingeschärft, dass es gut wäre, wenn ich mit ihm zusammenarbeiten könnte. Beide, Kühlewind und Suchantke, sind später bekannt geworden und haben schließlich auch in meinem Leben, wie sie vorausgeahnt hatte, eine wichtige Rolle gespielt.

Helga Kranz verstand es, auf die Intentionen, auf die Zukunft der Menschen zu schauen. „Wo die Menschen herkommen, interessiert mich nicht besonders‟, sagte sie einmal, „aber natürlich sollte man das wissen.‟ Sie selbst war eine geborene von Luschin und wurde am 31. Januar 1909 als Tochter eines hohen Marineoffiziers in Pola (heute Pula) an der Südspitze Istriens, dem damaligen Hafen und insbesondere Kriegshafen Österreichs geboren. Vor ihrer Heirat hatte sie als Gärtnerin gearbeitet, wenn ich das richtig weiß. Ihre Mutter war polyglott, empfand das als selbstverständlich und bildete sich nichts darauf ein. Sie half ihren Kindern, Helga und einem in der Nähe wohnenden Bruder im Haushalt und hielt die zwei dazugehörigen Gärten in Ordnung. Ihren Enkeln aus beiden Familien half sie bei der Mathematik, im Lateinischen und beim Üben ihrer Musikinstrumente. Für Helga insbesondere und ihre Hausbewohner und Hausgäste kochte sie. Wie ihre Tochter war sie Anthroposophin. Ohne ihre Mithilfe wäre das Leben in dem Haus auf dem Rosenberg, wie ich es beschrieben habe, undenkbar gewesen. Ihre Tochter hingegen half ihr, anthroposophische Ideale, die auch ihre waren, zu verwirklichen, wie sie es in ihrem Alter selbst nicht mehr konnte.

In dem Jahr vor ihrem Tod hat Helga Kranz den Waldorfschulverein Steiermark, aus dem später die Grazer Waldorfschule hervorging, mitbegründet und war Vorstandsmitglied. Im Dezember war sie noch nach Nürnberg gereist und hatte auch Zagreb in Jugoslawien besucht. Am 24. Januar 1976, wenige Tage bevor sie 67 Jahre alt geworden wäre, starb sie in Graz.

Eginhard Fuchs

Quellen Erwähnungen

N 1965 S. 183
Werke: Beitrag in N.
Literatur: Stracke, V. J.: Helga Kranz, geborene Luschin, in: N 1976, Nr. 12.
Abkürzungen: siehe hier
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